Angesichts der massenhaften sexuellen
Übergriffe auf Frauen in Köln und anderswo ruft man allerorten nach
der "Härte des Rechtsstaats", was nach meinem Verständnis
so viel heißt wie die konsequente Anwendung der bestehenden Regeln
und Gesetze, um Täter zur Rechenschaft zu ziehen und den Kern des
Rechts zur Geltung zu bringen. Dieser Kern ist in Deutschland durch
den Ersten Artikel des Grundgesetzes und damit durch die Würde des
Menschen bestimmt, deren Schutz in vielen weiteren Artikeln und
Gesetzestexten ausdekliniert wird.
Löcher. Columba, Köln, 2014. |
Allerdings scheint "Härte des
Rechtsstaats" oft so verstanden zu werden, als müssten in
erster Linie Exempel statuiert und Verschärfungen des Rechts
(aktuell: Abschiebepraxis bei Tätern, die Asylbewerbern sind) sowie
eine brutalstmögliche Ergreifung der Täter in die Wege geleitet
werden. Es macht die Sache nicht klarer oder besser, dass dabei auch
Flüchtlingspolitik und Feminismus in diesen großen Topf gerührt
werden, in dem jeder meint, sein eigenes Süppchen kochen zu müssen.
Einen Kochtopf weiter köchelt Polen,
auf das zu schauen sich derzeit lohnt, wenn es um die Fragen nach
Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und Freiheitsrechte im Staat
sowie gegenüber staatlichen Organen geht. Das Parlament wird dort
gerade mit absoluter Mehrheit von der nationalkonservativen PiS
bestimmt.
Norbert Lammert hat vor dem Hintergrund
der aktuellen polnischen Umwälzungen durch die Exekutive und die
Eingriffe in die Besetzung des Verfassungsgerichts in einem Kommentar
in der ZEIT (vom 30.12.2015) betont: "Die verlässliche
Stütze der Freiheit ist gerade deshalb nicht das Mehrheitsprinzip,
sondern der Rechtsstaat, der individuelle Grundrechte sichert, die
nicht zur Disposition stehen, auch nicht für demokratisch gewählte
Mehrheiten." Gerade die deutsche Geschichte habe u.a. mit
die Aufhebung der Gewaltenteilung in den zwei Diktaturen des 20.
Jahrhunderts gezeigt, wie es nicht geht, so dass die
Rechtsstaatlichkeit heute "unverrückbaren Geltungsanspruch
in Deutschland" beansprucht.
Ähnlich ambitioniert und mit den
pathetischen Mitteln des amerikanischen Kinos argumentiert Steven
Spielberg in seinem aktuellen Streifen "Bridge of Spies",
den ich vor ein paar Tagen gesehen habe. Der von Tom Hanks
verkörperte Anwalt Jim Donovan wird vom Drehbuch mit allen Merkmalen
des moralisch integren Akteurs ausgestattet und setzt sich auch über
die ihm auferlegte Pflicht hinaus für seinen Mandanten, den
sowjetischen Spion Rudolf Abel, ein. Und dies auch gegen viele
Widerstände des "Volkszorns", der in ihm einen
Unterstützer der Kommunisten sieht.
Glienicker Brücke, Potsdam, 2012. |
Das Recht auf eine kompetente
Verteidigung ist ihm so wichtig, dass er auch das Ansinnen der CIA
ablehnt, seine Schweigepflicht zu brechen und Informationen seines
Mandanten weiterzugeben. Die zynisch-pragmatische Aussage des
CIA-Agenten, dass er kein Regelwerk ("rulebook") brauche,
kontert er sinngemäß: Sie als US-Amerikaner deutscher Abstammung
und ich als US-Amerikaner irischer Abstammung haben nicht viel
gemein, aber als US-Amerikaner haben wir die gleichen
verfassungsgemäßen Rechte, also ist die Verfassung unser Regelwerk.
Diese Verfassung (und in der Konsequenz eine ordnungsgemäße
Verteidigung), so erklärt er später in einer Grundsatzrede, sei es,
die wir als rechtsstatliche Basis (im Übrigen auch für die Feinde
dieses Staates!) brauchen, um uns von den Sowjets abzuheben.
Und diese Verfassung, so würde ich
hinzufügen, schützt hoffentlich alle vor staatlicher Willkür, auch
jene, wo uns das nicht auf Anhieb gefällt. Manchmal ist dieser
Schutz in der Strafverfolgung unbequem und manchmal entspricht er
nicht dem Gerechtigkeitsempfinden, aber nötig ist er allemal, sonst
gilt das Verdikt des Augustinus: "Nimm das Recht weg – was
ist dann ein Staat noch anderes als eine große Räuberbande?".1
Täter sollten gefasst und mit
rechtsstaatlichen Mitteln verurteilt werden – ohne jedoch dass
irgendein diffuser Volkeswille seine Rachsucht befriedigt. Sondern
indem die jetzt gedemütigten und beraubten Opfer merken, dass ihr
Schicksal vor dem Recht nicht gleichgültig ist und indem die Täter
spüren, dass ihre Taten vor dem Recht nicht folgenlos sein können.
Beide müssen das Recht erfahren und
"ihr Recht bekommen" durch die Anwendung der Gesetze, die
an die Grundrechte gebunden sind.
Unter dem Dach des Rechts. S-Bahnhof Hermannstraße, 2015. |
1 De
civitate Dei, IV, 4, 1. Vgl., in anderer Übersetzung, hier:
https://www.unifr.ch/bkv/kapitel1922-3.htm