Ruth Klüger schrieb Anfang der 1990er
Jahre ihre Reflexionen über die Ghettos und Lager, in denen sie
einen Großteil ihrer Kindheit verbringen musste. Damals gab es
bereits eine ansehnliche Zahl von Zeitzeugenberichten, "so
daß ich heute nicht von den Lagern erzählen kann, als wäre ich die
erste, als hätte niemand davon erzählt, als wüßte nicht jeder,
der das hier liest, schon so viel darüber, daß er meint, es sei
mehr als genug, als wäre dies alles nicht schon ausgebeutet worden -
politisch, ästhetisch und auch als Kitsch."1
Warum also heute trotzdem davon
erzählen, warum nicht besser schweigen, warum vor allem an diesem
Ort das Thema wiederum aufgreifen?
Aus Befangenheit "in einer Art
Schreckensrührung",2
wie Ruth Klüger sie in manchen wohlmeinenden Deutschen sieht oder
weil Deutschland immer noch "ein von Hitler traumatisiertes
Land" ist, wie Alain Finkielkraut jüngst in der Zeit
unterstellte?
Selbstverständlich hat das Nachdenken
über die Shoah hierzulande oft eine pädagogische und vielleicht
auch therapeutische Komponente.
Zugleich aber geht der gesellschaftlich-ethische Gehalt des Erinnerns der Shoah tiefer, als die gängigen mahnenden
Schulddiskurse und das stets wiederholte plakative (wenngleich
notwendige) "Nie wieder!" suggerieren.
Dazu zwei Erwägungen.
Pfahl im Eis der Klarheit. Peetzsee, Grünheide, 2016. |
1 Die Unsympathischen
Ruth Klüger schreibt, dass sie ihre
Großtante, die später dem Völkermord der Nazis zum Opfer fallen
sollte, nicht unter dem Gesichtspunkt ihres Lebensendes als
Verfolgte, Entrechtete und Ermordete erinnern kann, sondern nur als
eine ihr böse gesonnene alte Frau: "Die Tante bleibt für
mich der Mensch, der mir verbot, nach dem Kirschenessen Wasser zu
trinken, weil das schädlich sei ... ; die mir meine alte
Straßenbahnfahrkartensammlung wegnahm, das sei unhygienisch; die
morgens in der Dunkelheit auf der einsamen Fresserei bestand, die man
Frühstück nannte, dieses klebrige Brot und das süßliche Getränk
mit der Milchhaut drauf ..."3
Zugleich aber ist sie von sich selbst
schockiert, "daß die vergaste Tante Rosa nur eine erbitterte
Kindheitserinnerung bleibt, die Frau, die mich bestrafte, als sie
herausfand, daß ich den Frühstückskakao in die Spüle geschüttet
hatte."4
Was für sie intuitiv zählt, sind die
schlechten Erinnerungen, nicht die Trauer oder Betroffenheit. Ihr
Entsetzen über sich selbst hat mit diesen verschobenen Dimensionen
zu tun, mit der Pietät, der es normalerweise nicht erlaubt,
kindliche Emotionen so ernst zu nehmen, dass der gewaltsame Tod
daneben verblasst.
Angesichts der Prämisse von klar scheidenden Nachgeborenen: "Das geschundene Volk
muß gut gewesen sein, wo kämen wir sonst hin mit dem Kontrast von
Tätern und Opfern?"5 stellt sie nüchtern-lakonisch klar,
dass gemeinsames Leiden nicht zwangsläufig zusammenschweißt und
dass Familien nicht unbedingt gestärkt aus den Erlebnissen
massenhaften Sterbens und Mordens um sich herum hervorgehen: "Während
eines Erdbebens zerbricht erfahrungsgemäß mehr Porzellan als
sonst."6
Gegen die vereinfachende Versuchung der
Schwarzweißmalerei und gegen die zynische Versuchung, unangenehme
Zeitgenossen einfach zu vergessen, gilt also der Imperativ, sich auch
an die Unsympathischen zu erinnern, auch ihnen zuzugestehen, dass sie
"nur" Menschen sind und keine moralischen Überflieger.
Ambivalenzen und Grauzonen gehören
auch in Auschwitz dazu, Gut und Böse sind oft nicht trennscharf
auseinanderzuhalten.
(Nebenbei, und ohne damit gewalttätiges
Verhalten zu verteidigen, gilt dies meiner Meinung nach auch für
straffällig gewordene Asylbewerber, die ihren Taten gemäß bestraft
gehören, nicht einer unterstellten Gesinnung.)
Erinnern heißt, ein Gesicht zu geben. Mahnmal Große Hamburger Straße, Berlin-Mitte, 2016. |
2 Die Widerständigen
Neben diesen
Fragen des Erinnerns auch über emotionale Widerstände hinweg gibt
es das Erinnern als Widerstand.
Eine Sache ist es, einem Menschen, dem
durch die Erfahrung von Gewalt und das vollständige Ausgeliefertsein
an fremde Mächte das Gefühl für sein Menschsein abgesprochen
wurde, zuzuhören, mit diesem Menschen vielleicht dem inneren
Entsetzen zu widerstehen versuchen und ihm so zu helfen, neu und
wieder Mensch zu sein.
(Nicht viele Menschen haben diese
Möglichkeit, in direktem und engem Kontakt mit solcherart Versehrten
zu stehen, wenngleich gerade im Kontext der vielen vor Krieg und
Verfolgung zu uns Geflohenen die Möglichkeiten dafür wachsen.)
Eine andere Sache ist es, die
Erlebnisse zu dokumentieren, später darüber zu berichten, zu
erinnern und nicht ins Vergessen fallen zu lassen – auf diese Weise
nämlich wird mindestens partiell der Gerechtigkeit wieder
aufgeholfen.
Denn wer andere Menschen um ihr Menschsein bringen und sie gar auslöschen will, der kann nicht wollen, dass diese Menschen Zeugnis geben von dem, was ihnen widerfuhr. Jede öffentliche Erinnerung, jede ernsthafte Erörterung des Themas, jedes Mittrauern ist dann ein Akt des Widerstandes.
Denn wer andere Menschen um ihr Menschsein bringen und sie gar auslöschen will, der kann nicht wollen, dass diese Menschen Zeugnis geben von dem, was ihnen widerfuhr. Jede öffentliche Erinnerung, jede ernsthafte Erörterung des Themas, jedes Mittrauern ist dann ein Akt des Widerstandes.
Bei jenen, denen Carolin Emcke zuhörte
und nachlas, entdeckte sie, dass diese selbst auf verschiedene
unscheinbare Weisen widerständig (oder dissident) waren, indem sie
"selbst unter extremen Ausnahmesituationen etwas von sich zu
schützen wissen, wie sie etwas erhalten von der Person, die sie
einmal waren, früher, in einem anderen Leben."7
Menschen wollten auf diese Weise mental
der Entmenschlichung entgehen, die über sie hereingebrochen ist, sie
wollen dem, was sie erleben, beispielsweise in einem
Konzentrationslager oder unter Folter, etwas entgegensetzen – und
sei es "nur" das Memorieren von Gedichten, das
lebensgefährliche Aufbewahren kleinster Stücke persönlichen
Eigentums, die unmöglich-verbotene Hilfe für einen Schwächeren.
Emcke schreibt: "Etwas tun zu können, irgendetwas, sich im
Radius der Ohnmacht der eigenen Handlungsfähigkeit zu versichern,
gehört zu den Momenten der Dissidenz."8
Denn hier wird im geringsten Tun Selbstachtung und das "Ich"
wiedergefunden.
Wir relativ Unbedarfte können diesen
damaligen Versuchen, die lastende Gegenwart zu bestehen und sie zu
transzendieren, oftmals nur verwundert oder staunend gegenüberstehen.
Doch die Person, die, "als Überlebende oder Nachgeborene,
diesen Erfahrungen der Misshandlung und Entrechtung etwas
entgegensetzen will, der bietet sich in diesen Widerständigkeiten
ein Anknüpfungspunkt des Erinnerns und des Erzählens, des Zuhörens
und des Nachfragens."9
So kann im direkten Kontakt mit
Menschen, die durch ihre Erfahrungen des Ausgeliefertseins weiterhin
existenziell angefochten sind, gesagt werden, dass Angst oder Schmerz
oder die Einsamkeit in diesen Erfahrungen nicht mehr alles sein
sollen.
Unklarheit zulassen. Theodor-Heuss-Platz, Charlottenburg, Berlin, 2014. |
Weiterführend geht es in diesem Sinne
um Auferstehung, um eine "Re-Humanisierung"10
der Versehrten – ihre ausbrechende Widerständigkeit, ihr Erzählen
und unser Hören und Weitertragen macht sie von Nummern wieder zu
Personen. Gegen das Vergessen und Einebnen geht es für die Einzelnen
darum, wieder als Individuum wahrgenommen zu werden, nicht als
"Masse" aus Überlebenden (oder aus Flüchtlingen).
Das ist ein fragiles und beschränkt
bleibendes Tun angesichts der vielen verschiedenen Stimmen, die nie
alle gleichwertig wahrgenommen werden können. Aber dieses Tun,
dieses Raumgeben den Versehrten wirkt zurück auf uns:
"Es ist auch unsere Identität,
die der Ungeprügelten, der Verschonten, der nächsten Generation,
der Kinder und Enkel, die wir die Geschichten der Täter und Opfer,
auch die unerzählten, geerbt haben, die sich in einem solchen
Gespräch erst beweisen muss. Wer wir individuell und als
Gesellschaft sein wollen, wer wir sein können, zeigt sich auch
darin, ob wir eine solche vielstimmige, unfertige und zeitoffene
Erzählung ermöglichen."11
Es ist auch unser Widerstand gegenüber dem Verschweigen von Unrecht und Gewalt, denn das Verschweigen setzt Unrecht und Gewalt fort.
1 R.
Klüger, weiter leben. Eine Jugend. Göttingen 1992, 79.
2 Ebd.,
85.
3 Ebd.,
11.
4 Ebd.,
12f.
5 Ebd.,
72.
6 Ebd.,
55.
7 C.
Emcke, Weil es sagbar ist. Über Zeugenschaft und Gerechtigkeit.
Essays. Frankfurt a.M. 2015, 57.
8 Ebd.,
60.
9 Ebd.,
68.
10 Ebd.,
100.