Dienstag, 14. Mai 2019

Lektionen voll undifferenzierter Hybris. Unzufriedenheit nach einem Buch von Y. N. Harari

Alle lesen ihn, alle reden von ihm – also dachte ich vor einigen Monaten, dass ich doch auch mal so ein Buch von Yuval Noah Harari lesen müsste. Da fiel mir in der Öffentlichen Bibliothek "21 Lektionen für das 21. Jahrhundert"1 in die Hände. Und ich nahm an, nun könnte ich eine Bildungslücke stopfen.
Denn wenn es um die großen Fragen unserer Zeit, also um Krieg und Frieden, Gerechtigkeit, Technologie, Digitalisierung, Migration, Terrorismus etc. geht, kann ich mir hier, so meine Hoffnung, sicher einen guten Einblick verschaffen.

Aber ich wurde schwer enttäuscht. Und ich schreibe hier im Normalfall positiv-kritisch, über Dinge, die mir gefallen und die ich empfehlen will. Nur ist hier eine Ausnahme angebracht.

Beginnt so das 21. Jahrhundert?
Humboldtforum, Berlin-Mitte, 2018.
Zwar enthält das Buch einige interessante Perspektiven, so etwa, wenn es um die Zukunft der Arbeit im Zeitalter des technologischen Fortschritts geht und um die damit einhergehenden Lösungsmodelle, oder wenn die Frage nach Gemeinschaft im Zeitalter von virtuellen Freundschaften auf Facebook hin- und hergewälzt wird. Meist geht der Autor dabei kreativ und scharfzüngig vor, bürstet gängige Vorstellungen gegen den Strich und hinterfragt kritisch.

Auf diesem Blog aber geht es vorrangig um religiöse Fragen und deshalb soll in dieser Kritik Hararis Religionskritik angeschaut werden.
Die hat es in sich.
Sie ist nämlich unterirdisch.

Ich möchte dabei gleich zu Beginn betonen, dass ich es äußerst wichtig finde, dass man Religion(en) kritisieren darf und dass man das in manchen Fällen sogar tun sollte. Man kann zudem mit guten Gründen nicht religiös sein und die praktischen Widerlichkeiten vieler religiöser Menschen und Gruppen anprangern.
Aber das sollte ein gewisses Niveau nicht unterschreiten.
Der Historiker Harari aber arbeitet bei religiösen Fragen, im Gegensatz zu den anderen Themengebieten des Buches, vornehmlich mit Unterstellungen. Jedwede Unterscheidung zwischen Ideologie und Religion unterbleibt, so dass alles, was organisierte Religion angeht, in Bausch und Bogen den Bach hinuntergeschickt wird.
Ein Beispiel: Die Tatsache, dass es Gläubige gab und gibt, die naturwissenschaftliche Erkenntnisse aus ihren religiösen Schriften extrapolieren, heißt nicht, dass alle das tun. Dass Menschen sich in ihren Sorgen und Nöten an religiöse Autoritäten wandten, bedeutet nicht, dass jede Anmaßung einer Religion als ein legitimer Ausdruck von Religion behandelt werden muss. Und die Hybris der katholischen Kirche, die gegenüber wissenschaftlichen Erkenntnissen viele Jahrhunderte lang in einem Duktus der Rechthaberei verharrte, enthebt einen Autor nicht der Mühe, sich mit Argumenten auseinander zu setzen, wenn es um Kritik an dieser Religion geht.

Die schlichte Gegenüberstellung von Glaube und Wissenschaft, die sich an genügend Beispielen erhärten lässt, aber gewiss nicht alle historischen Epochen durchzieht, braucht schon eine bessere Begründung als folgende: "Offen gesagt haben traditionelle Religionen vor allem deshalb so sehr an Boden verloren, weil sie in Sachen Landwirtschaft oder Gesundheitsversorgung schlicht nicht besonders gut waren. Die Expertise von Priestern und Gurus hat nie wirklich für Regen oder Heilung gesorgt".2
Richtig – und das muss diese Expertise auch nicht, insofern es nicht Männer (und Frauen) der Wissenschaft waren, wie es sie zu allen Zeiten in allen Religionen gegeben haben dürfte. Denn Wetter und Medizin gehören nicht zum Proprium des Religiösen, wie ein Mann wie Harari auch zugeben könnte. Stattdessen übernimmt er den lächerlichen Anspruch mancher Vertreter von Religionen und gibt ihn als den eigentlichen Kern von Religion aus.
Das ist keine Kritik, das ist ein Taschenspielertrick.

Zu viel Sand im Schuh. Und Kinderwagen fahren
hier gar nicht.
Strand von Zinnowitz, Usedom, 2019.
Ein weiteres Beispiel: Harari stellt religiöse Schriften gern als Gesetzbücher dar und Gott dementsprechend als einen Gesetzgeber. Aber Gott ist nicht nur Gesetzgeber, das lässt sich bei genauer Lektüre der Heiligen Schriften auch erkennen – wenn man es denn will. Harari aber tappt durch sein undifferenziertes Dreinschlagen in die Falle der Fundamentalisten, die Religion genau so darstellen, nämlich als ein Kompendium von Regeln, die einzuhalten sind und wer dies nicht tue, sei Häretiker oder Abtrünniger.
Wer sich sein Gegenüber so imaginiert oder an den schlimmsten Vertretern Maß nimmt, wird genügend Möglichkeiten finden, diese Seifenblasen als solche zu dekonstruieren.
Wo Harari zu Beginn noch festhält, dass Religion das sei, was Menschen daraus machen, da bewertet er in den folgenden Kapiteln zutiefst einseitig und schaut nicht mehr auf verschiedene Perspektiven bezüglich Religion. Positive Beispiele religiös motiviert Handelnder kommen nicht vor.
Sonst diskutiert der Autor nachvollziehbar und einigermaßen differenziert, beim Thema Religion jedoch nicht. Alles wird mit allem verschwurbelt, Ideologie und Religion zusammengepanscht und dann der Vorwurf der Rechthaberei erhoben. Dem gegenüber werden säkulare Menschen als (selbst)kritisch und rational dargestellt, als ob Gläubige keinen Zweifel kennen würden und ihren Führern immer und überall blind nachliefen, ohne je selbst zu denken.
Beispiel gefällig? Bitte: "Die säkulare Wissenschaft hat ... zumindest einen großen Vorteil gegenüber den meisten traditionellen Religionen, nämlich dass ... sie zumindest im Prinzip bereit ist, eigene Fehler und blinde Flecken einzugestehen. Wer hingegen an eine absolute Wahrheit glaubt, die von einer transzendenten Macht geoffenbart wurde, darf sich keinerlei Fehler eingestehen – denn das würde die ganze Geschichte zunichte machen."3

Alle nötigen Differenzierungen oder Mehrdeutigkeiten kann man dann weglassen, wenn es nicht um Kritik geht, sondern ums Abkanzeln. Der kritische Bestsellerautor unterläuft bei dieser Thematik alle Ansprüche, die er selbst aufstellt und die man an ein ordentlich recherchiertes und klug durchdachtes Buch haben darf.
Sicher muss auch Religionskritik sein, aber so billig wie hier war sie noch selten zu haben.
Leider steht dieser platten Kritik eine ebenso platte Wissenschaftsgläubigkeit gegenüber, die vornehmlich nach biologischen und neurologischen Maßstäben misst und so gerade bei einem wichtigen Thema wie der Möglichkeit menschlicher Freiheit hilflos unterkomplex und nahezu philosophiefrei bleibt. Das geht einfach nicht!

Spannend ist jedoch ein Punkt, an dem sich einiges offenbart. Harari ist schwul – und einem homosexuellen Mann gestehe ich zu, dass er kritischer gegenüber dem meist homophob ausgerichteten Mainstream der großen Religionen ist – und dass er in seiner Kritik bisweilen auch über das Ziel hinausschießt. Als es um das Wort „Gott“ geht, gibt es einen Moment der Wahrheit:
Wenn ich das Wort 'Gott' verwende, denke ich an den Gott des Islamischen Staates, der Kreuzfahrer, der Inquisition und der 'Gott hasst Schwuchteln'-Aufkleber. Wenn ich an das Geheimnis des Daseins denke, benutze ich lieber andere Wörter, um Verwechslungen zu vermeiden.4

Das Gift vieler Schwulenhasser in den großen Religionen zeigt hier seine Wirkung. Durch die erniedrigende und herablassende Behandlung Homosexueller wird Gott selbst beschmutzt. In solchen Religionen sucht dieser Mann einfach nicht mehr nach Trost und Freude.

Leider geht es in seinem Buch auch nicht um das „Geheimnis des Daseins“, dafür ist der Autor viel zu sehr dem Hier und Jetzt und seinen aktuellen politisch-sozial-technischen Fragen verhaftet.
Doch er bekennt sich zur Meditation als Sinnmotor seines Lebens. Dazu gehören für ihn interessanterweise eine Reihe von Glaubensinhalten, die dem Buddhismus zuzurechnen sind, zuvörderst das Primat des Leids und die radikale Relativierung des Ichs.
Kurz bevor Harari aber ein Bekenntnis zu dieser Religion ablegen könnte, führt er einige fürchterliche Kriegsgeschichten von rivalisierenden buddhistischen Königtümern an, so dass sofort noch einmal klar wird: diesem Autor geht es nicht darum, eine institutionalisierte Religion zu bewerben, sondern nur ihre Versatzstücke.
Gott (oder das „Geheimnis des Daseins“) ist hier kein Zielpunkt mehr, alles ist heruntergebrochen worden auf die Nützlichkeit. So wird Meditation für Harari leider zu einer Ressource der wissenschaftlichen Erkenntnis. Das entwertet für mich sein Bekenntnis etwas, aber damit wird er leben können.

Als ich das Buch in die Bibliothek zurück gebracht hatte, war ich froh. Nicht, dass ich mich nicht gern mit Religionskritik auseinandersetze. Aber die Hybris und Überheblichkeit, die der Autor den organisierten Religionen vorwirft, ist ihm beim Thema Religion selbst zuzurechnen.
Das macht die Lektüre sehr anstrengend und wenig lohnenswert.
Keine Empfehlung.

Auch keine Empfehlung, jedenfalls nicht in dieser Kombination.
Berlin-Mitte, 2019.

1   Y.N. Harari, 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert. München 2018.
2   Ebd., 179.
3   Ebd., 284.
4   Ebd., 166.