Mittwoch, 8. Mai 2019

"Bin ich das gewesen?" Arno Geiger und die Ambivalenzen des Kriegsendes

In Arno Geigers letztem Roman verbringt der österreichische Soldat Veit den größten Teil des Zweiten Weltkriegs auf dem Land im Salzkammergut. Dort lebt er "Unter der Drachenwand" (so der Buchtitel) und unter der ständigen Angst, doch noch für verwendungsfähig erklärt und erneut eingezogen zu werden.
Während einer Diskussion mit seinem in der Ortsverwaltung eingesetzten Onkel versucht er in einem kritischen Ausfall sich vom fernen Krieg innerlich zu distanzieren. Aber der Onkel steht dagegen – und schließlich gibt Veit zu:

Schatten der Kriegsgöttin Athene.
Altes Museum, Museumsinsel, Berlin-Mitte, 2019.
"Wenn ich ehrlich war, hatte der Onkel recht, es war auch mein Krieg, ich hatte an diesem verbrecherischen Krieg mitgewirkt, und was immer ich später tun oder sagen mochte, es steckte in diesem Krieg auf immer mein Teil, etwas von mir gehörte auf immer dazu, und etwas vom Krieg gehörte auf immer zu mir, ich konnte es nicht mehr ändern."1

Auch gegen seinen Willen – der Krieg steckt ihm, wie wohl fast allen Männern jener Generation, in den Knochen. Er kann ihm nicht entkommen. Distanzierung ist zwecklos.

Und doch ist da eine Ambivalenz. Und die hat mit dem Gefühl von Unwirklichkeit zu tun, das den Helden am Ende des Romans erfasst. Der Krieg ist endlich vorbei, Veit reist so wie viele Versehrte heim nach Wien und kann nicht fassen, was da knapp sechs Jahre lang los war:

"Zu Hause wusch ich mich, und als ich die Narben an meinem rechten Bein sah, kamen sie mir fremd vor, ich konnte mich nicht daran erinnern, dass mir diese Verletzungen zugestoßen waren. Und vor allem konnte ich es nicht glauben: Bin ich das gewesen?"2

Ein sprechendes Bild: Beim Waschen verschwindet plötzlich die alles beherrschende Welt des Krieges und die Distanzierung kriecht Veit unter die Haut.
So wie er konnten viele der Kriegsteilnehmer mit dem hereinbrechenden Frieden nicht mehr verstehen, was sie geritten hat, während des Krieges dies oder jenes zu tun.

"Bin ich das gewesen?" War ich dazu fähig?

Sie werden sich selber fremd.3
Manche haben diesen Widerstreit zwischen dem eigenen Selbstbild und dem davon verschiedenen Selbsterleben während des Krieges nach Kriegsende nicht ertragen können. Wahrscheinlich kann diese Spannung am besten mit professioneller Hilfe bewältigt werden.

Heute, 74 Jahre nach dem Kriegsende betrifft uns diese Frage vielleicht nicht mehr so existenziell. Aber die Wahrnehmung von Hilflosigkeit gegenüber der unmöglichen Distanzierung von den erlebten Greueln und die gleichzeitige Ungläubigkeit angesichts dessen, wozu man selbst fähig gewesen ist, können den Blick schärfen für die Ambivalenzen und absurden Gleichzeitigkeiten, die solch extreme Erlebnisse in Menschen hinterlassen können.

Und vielleicht hilft das Bewusstsein für die Selbstentfremdung beim Verständnis für die langsam aussterbende deutsche Kriegsgeneration, aber auch für diejenigen, die aktuell vor Krieg und Verfolgung zu uns geflohen sind.


(Mehr zum Kriegsende u.a. hier und hier)

Erinnerung der Sieger.
Brandenburg / Havel, 2019.



1   A. Geiger, Unter der Drachenwand. München 2018, 347.
2    Ebd., 427.
3   Angelehnt an ein Zitat aus den Tagebüchern des in Russland gefallenen Wehrmachtssoldaten W. P. Reese in "Mir selber seltsam fremd. Russland 1941-44" Augsburg 2004.