In Arno Geigers letztem Roman verbringt
der österreichische Soldat Veit den größten Teil des Zweiten
Weltkriegs auf dem Land im Salzkammergut. Dort lebt er "Unter
der Drachenwand" (so der Buchtitel) und unter der ständigen
Angst, doch noch für verwendungsfähig erklärt und erneut
eingezogen zu werden.
Während einer Diskussion mit seinem in
der Ortsverwaltung eingesetzten Onkel versucht er in einem kritischen
Ausfall sich vom fernen Krieg innerlich zu distanzieren. Aber der
Onkel steht dagegen – und schließlich gibt Veit zu:
Schatten der Kriegsgöttin Athene. Altes Museum, Museumsinsel, Berlin-Mitte, 2019. |
"Wenn ich ehrlich war, hatte
der Onkel recht, es war auch mein Krieg, ich hatte an diesem
verbrecherischen Krieg mitgewirkt, und was immer ich später tun oder
sagen mochte, es steckte in diesem Krieg auf immer mein Teil, etwas
von mir gehörte auf immer dazu, und etwas vom Krieg gehörte auf
immer zu mir, ich konnte es nicht mehr ändern."1
Auch gegen seinen Willen – der Krieg
steckt ihm, wie wohl fast allen Männern jener Generation, in den
Knochen. Er kann ihm nicht entkommen. Distanzierung ist zwecklos.
Und doch ist da eine Ambivalenz. Und
die hat mit dem Gefühl von Unwirklichkeit zu tun, das den Helden am
Ende des Romans erfasst. Der Krieg ist endlich vorbei, Veit reist so
wie viele Versehrte heim nach Wien und kann nicht fassen, was da
knapp sechs Jahre lang los war:
"Zu Hause wusch ich mich, und
als ich die Narben an meinem rechten Bein sah, kamen sie mir fremd
vor, ich konnte mich nicht daran erinnern, dass mir diese
Verletzungen zugestoßen waren. Und vor allem konnte ich es nicht
glauben: Bin ich das gewesen?"2
Ein sprechendes Bild: Beim Waschen
verschwindet plötzlich die alles beherrschende Welt des Krieges und
die Distanzierung kriecht Veit unter die Haut.
So wie er konnten viele der
Kriegsteilnehmer mit dem hereinbrechenden Frieden nicht mehr
verstehen, was sie geritten hat, während des Krieges dies oder jenes
zu tun.
"Bin ich das gewesen?"
War ich dazu fähig?
Sie werden sich selber fremd.3
Manche haben diesen Widerstreit
zwischen dem eigenen Selbstbild und dem davon verschiedenen
Selbsterleben während des Krieges nach Kriegsende nicht ertragen
können. Wahrscheinlich kann diese Spannung am besten mit professioneller Hilfe bewältigt
werden.
Heute, 74 Jahre nach dem Kriegsende
betrifft uns diese Frage vielleicht nicht mehr so existenziell. Aber
die Wahrnehmung von Hilflosigkeit gegenüber der unmöglichen
Distanzierung von den erlebten Greueln und die gleichzeitige
Ungläubigkeit angesichts dessen, wozu man selbst fähig gewesen ist,
können den Blick schärfen für die Ambivalenzen und absurden
Gleichzeitigkeiten, die solch extreme Erlebnisse in Menschen
hinterlassen können.
Und vielleicht hilft das Bewusstsein für die Selbstentfremdung beim Verständnis für die langsam aussterbende deutsche Kriegsgeneration, aber auch für diejenigen, die aktuell vor Krieg und Verfolgung zu uns geflohen sind.
(Mehr zum Kriegsende u.a. hier und hier)
(Mehr zum Kriegsende u.a. hier und hier)
Erinnerung der Sieger. Brandenburg / Havel, 2019. |
1 A.
Geiger, Unter der Drachenwand. München 2018, 347.
2
Ebd., 427.
3 Angelehnt
an ein Zitat aus den Tagebüchern des in Russland gefallenen
Wehrmachtssoldaten W. P. Reese in "Mir selber seltsam fremd.
Russland 1941-44" Augsburg 2004.