Donnerstag, 1. Oktober 2020

Mauern vor dem Himmel. Die Schattenzeiten der Theresa von Lisieux

Schein und Wirklichkeit klaffen bisweilen weit auseinander.

Besonders wenn es um Heilige geht, stellen wir uns gern glaubensstarke Persönlichkeiten vor, die heroisch Gutes tun und vorbildliche Gottesbeziehungen pflegen.

Entsprechend groß war der allgemeine Schrecken über das erschreckend dunkle Glaubensleben der Mutter Teresa von Kalkutta, wie es vor einigen Jahren in ihren veröffentlichten Tagebüchern zum Ausdruck kam.

Aber auch die "Selbstbiographischen Schriften"1 der so genannten "kleinen" Theresa von Lisieux bringen dies zum Ausdruck. Schwach und kränklich wie sie ist, schreibt sie im Auftrag der Priorin Marie de Gonzague im Juni 1897 ihre Lebens- und Glaubensgeschichte auf.

Hohe Mauern vor dem Himmel.
Kreuzberg, Berlin, 2019.
An dieser Stelle klärt sie ihre Oberin (die sie als "Mutter" anspricht) über die Hintergründe ihrer religiösen Gedichte auf und erklärt dabei auch ihre als "Prüfungen" empfundene Leidenszeit:

"Meine Vielgeliebte Mutter, vielleicht scheine ich Ihnen meine Prüfung zu übertreiben; in der Tat, wenn Sie nach den Gefühlen urteilen, die ich in den kleinen heuer verfaßten Gedichten ausdrücke, so muß ich Ihnen als eine mit Tröstungen erfüllte Seele vorkommen, für die der Schleier des Glaubens beinahe schon zerriß, und dennoch... es ist kein Schleier mehr für mich, es ist eine zum Himmel ragende Mauer, die das gestirnte Firmament verdeckt... Wenn ich das Glück des Himmels, den ewigen Besitz Gottes besinge, so empfinde ich dabei keinerlei Freude, denn ich besinge einfach, was ICH GLAUBEN WILL. Manchmal freilich erhellt ein ganz kleiner Sonnenstrahl meine Finsternis, dann hört die Prüfung für einen Augenblick auf, aber nachträglich läßt die Erinnerung an diesen Lichtstrahl, statt mir Freude zu bereiten, meine Finsternis nur noch dichter werden."2

Die frommen Worte entsprechen also keiner dahinter stehenden, erfahrenen Wirklichkeit. Darum könnte man ihre Schriften als unehrlich und heuchlerisch abtun, aber in diesem Fall versteht die Heilige selbst ihre Formulierungen ja als einen Wunsch. Das wiederum kann ich gut nachvollziehen: das Schreiben als Ausdruck erhoffter Veränderungen.

Nicht die geistigen "Mauern" der Realität sollen bestimmend sein, sondern die ersehnten "Tröstungen", die sich in ihren Schriften zeigen.

Vielleicht ist Theresa uns Heutigen mit dieser Einstellung näher als ihr eigenwiliger Stil vermuten lässt. Selbst wenn unsere Glaubenskraft und unsere religiösen Erfahrungen nicht weit reichen, können wir doch (für uns oder andere) unsere religiösen Wünsche, unseren "Willen" zu glauben, artikulieren. Das ist eine geistliche Übung, die auch uns in die Tiefe Gottes führen kann.

Vielleicht ist Theresa uns dabei mit ihrer Phantasie und ihren Formulierungen voraus, aber es ist eine Übung, die wir in ihren Spuren immerhin ausprobieren können.

 

1   Hier zitiert nach der Ausgabe: Therese von Lisieux, Selbstbiographische Schriften. Authentischer Text. 14. Aufl. Einsiedeln 1998.

2   Ebd., 222f.

2 Kommentare:

  1. Ich kann mir nicht vorstellen, daß der "Wille" zu glauben wirklich weiterführt. Das macht eher Druck: Jemand muss nur genug wollen. Ich würde es eher von der Sehnsucht her sehen wollen.

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  2. Ja, der „Wille“ klingt eher wie vom Kopf gesteuert. „Sehnsucht“ gefällt mir auch mehr. Aber ich halte mich an den Text. Allerdings würde ich persönlich auch nicht so scharf trennen zwischen Wille und Sehnsucht ...

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