Donnerstag, 8. Oktober 2020

Gutes nicht übersehen! Zum Tod von Ruth Klüger

Nachdem ich bei meinem Freiwilligendienst vor fast zwanzig Jahren in der Ukraine mit vielen Überlebenden aus deutschen Konzentrationslagern zu tun hatte, las ich sehr eine Menge KZ-Erinnerungen.

Kein Zeugnis hat mich so nachhaltig beeindruckt wie das von Ruth Klüger, die am 6. Oktober diesen Jahres in Kalifornien gestorben ist.

Die analytische und völlig unpathetische Weise, den Schrecken ihrer Erfahrungen zu schildern, driftet nie ins Unpersönliche oder Empathielose. Trotz aller kritischen Härte spricht große Menschlichkeit und Weisheit aus ihrem Erinnerungsbuch "weiter leben".1

Beim Durchblättern meiner vor einigen Jahren erst gelesenen Ausgabe habe ich gerade eine Reflexion wiederentdeckt, die mich damals sehr nachdenklich machte.

Überweg.
Schwante, 2018.
Die Reflexion geht aus vom Erleben einer Selektion in Auschwitz.

Nachdem Ruth Klüger, damals dreizehnjährig, schon einmal als nicht arbeitsfähig aussortiert worden war, gelingt es ihr, sich an der zweiten Schlange heimlich noch einmal anzustellen. Dort kommt ihr eine junge Frau zu Hilfe, die als Häftling zum Schreibdienst eingeteilt ist. Als sie das kleine Mädchen in der Reihe stehen sieht, verlässt sie ihren Platz, fragt die kleine Ruth Klüger, wie alt sie sei und weist sie an, sich zwei Jahre älter zu machen. Dann geht sie zurück an ihren Platz und als die Kleine dran ist, überzeugt sie den SS-Mann, sie aufzuschreiben – damit rettete sie der Anderen das Leben. Einfach so, ohne etwas davon zu haben.

In ihrer Reflexion dazu kommt es der skeptisch-ungläubigen Klüger dennoch wie ein "Gnadenakt" vor, der "aus heiterem Himmel" und völlig "unverdient"2 durch diese junge Frau über sie kommt:

"Je genauer ich über die ... Szene nachdenke, desto halt- und stützenloser scheint das Eigentliche daran, daß ein Mensch aus freier Entscheidung einen fremden rettet, an einem Ort, der den Selbsterhaltungstrieb bis zur Kriminalität gefördert hat. Es ist etwas Beispielloses und etwas Beispielhaftes daran. Der Simone Weil war fast die ganze Belletristik verdächtig, weil darin fast immer das Gute langweilig und das Böse interessant ist, eine genaue Umkehrung der Wirklichkeit, meinte sie. Vielleicht wissen Frauen mehr über das Gute als Männer, die es so gern trivialisieren. Simone Weil hatte recht, ich weiß es von damals, das Gute ist unvergleichlich und auch unerklärlich, weil es keine rechte Ursache hat als sich selbst und auch nichts will als sich selbst."3

Hier hat Ruth Klüger einen äußerst wichtigen Punkt getroffen: bei genauerem Hinsehen ist das Gute oftmals viel interessanter als das Böse. Es plustert sich bloß nicht so auf und macht nicht so viel Wirbel um sich selbst, so dass es leichter übersehen werden kann.

Doch die Hilfe der Frau kann auch nicht übersehen werden - denn sie ist eine Tat der Liebe.

Ob Frauen hier einen generell besseren Blick haben, kann man durchaus fragen – ich denke, dass sich für jeden Menschen, sei es Frau oder Mann, die Aufgabe stellt, das Gute wirklich zu würdigen und wertzuschätzen.

Ruth Klüger hat das in ihrem Werk getan – und dafür bin ich ihr sehr dankbar.

 

 

1   R. Klüger, weiter leben. Eine Jugend. Göttingen 1992.

2   Ebd., 131.

3   Ebd., 132.

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