Donnerstag, 31. Oktober 2013

Nachdenken über Glaubens(re)form

Angesichts des Papstes Franziskus fragen in der katholischen Kirche und darüber hinaus viele Menschen nach den strukturellen Reformen, die nun ihrer Meinung nach seitens des Papstes initiiert werden müssten. Auch ich frage mich das bisweilen und nehme wahr, wie über Kurienreform, deutsche Kirchenfinanzierung, Sakramentenpastoral, Weihevoraussetzungen, Moraltheologie, Ökumene, Milieustudien und viele andere Dinge gestritten und gerungen wird.
Vor dem Reformationstag stellt sich mir aber auch die Frage, was wohl eines heutigen Luthers Ansatzpunkte wären, mit den ganz konkreten gegebenen Fragen im Hinterkopf, explizit von den Wurzeln her theologisch neu zu denken. Schließlich ist heute klar und war auch Luther bewusst, dass eher „praktische“ Streitthemen wie Ablasshandel, Wiederverheiratete, Bilderverehrung oder prunkvolle bischöfliche Bauten eng zusammenhängen mit den basalen Fragen nach Gnade, Glaubenswissen, Freiheit, Schriftkenntnis.

Musikveranstaltung im Rosenkeller, Jena, 2012, Ausschnitt.

Fünf Punkte waren es, die mich auf einer S-Bahnfahrt spontan überfielen und die ich hier skizzieren will.

1 – Gottesbild
Musste Luther kämpfen gegen das Bild eines Krämergottes, der mit Hölle drohend eine ängstigende Atmosphäre verbreitet und dem man durch Werk und Geld entkommen kann – so hat sich die Situation heute natürlich grundlegend gewandelt:
Es ist oft ein ferner Gott, der mit den täglichen Entscheidungsprozessen des persönlichen Lebens nichts zu tun hat. Es ist meistens die Vorstellung einer unpersönlich-anonymen Kraft, die keine Koordinate in meinem Beziehungskosmos darstellt. Es ist mal ein weltentrückter Bezugspunkt intellektueller Gedankenspiele. Es ist bisweilen ein liebevoller Schmusepapa, der keine Ansprüche stellt und, ein Vorbild an aufgeklärter Toleranz, uns Menschen mit der Gießkanne umarmt. Oder es ist der Erfolgsgott, mit dem das Leben sich umdreht und nicht anders als innerweltlich gelingen kann.
Welches Bild aber hätten Christen stattdessen heute von Gott zu vermitteln? Ich glaube, es geht verstärkt um eine Rückkehr zu Gott als Gegenüber, der sich offenbart in der konkreten Geschichte Israels bis zu Jesus Christus, der auch uns Heutige zur Umkehr aufrufen will und einen festen Platz in unserem Alltag sucht. Der herausfordert und zugleich bestärkt, der begnadet und führt. Und in all dem zugleich die Rückkehr zur Einsicht, dass unsere Maßstäbe, Worte, Erfahrungen, Dogmen nur begrenzte Aussagen machen können angesichts des überbegrifflichen Geheimnisses, das wir Gott nennen (Karl Rahner lässt grüßen).

2 – Hörvermögen
Luthers Intention war unter anderem, das Wort Gottes in Bibelübersetzung, Liturgie, Predigt wieder hörbar zu machen. Auch wir müssten Gott also wahrnehmen können – z.B. die leisen Töne unserer inneren Regungen deuten lernen und darin Gottes Stimme zu unterscheiden von den vielen Stimmen, die uns tagtäglich umkreisen. Hören auf das biblische Zeugnis in Beziehung zu den Zeichen, die die Gegenwart uns für unser Tun und Lassen an die Hand gibt.
Aber hören ist auch eine Vertiefung christlichen Lebens auf das Gebet hin. Denn das soll ja nicht plappern und viele Worte machen sein, sondern uns hören lassen auf Gottes Ruf in unser konkretes Leben.

3 – Sprachfähigkeit
Den eigenen Glauben verantworten können und ihn ins Wort zu bringen war ebenfalls eine Anforderung Luthers an den mündigen Christen, den er damals bilden wollte. Welches Zeugnis geben Christen in der heutigen pluralen Gesellschaft von dem, was sie trägt, was sie aufrecht hält, was ihnen Ausrichtung gibt? Jedermann gegenüber auskunftsfähig zu sein bezüglich der eigenen Hoffnung, nennt dies der Erste Petrusbrief (3,15).
Können wir das? Schaffen wir eine glaubwürdige Synthese aus Verstehbarkeit für die Umwelt und Widerpart zu ihren Hör- und Denkgewohnheiten? Es gibt eine Anschlussfähigkeit beispielsweise in der Formulierung dessen, was Sehnsucht nach erfülltem Leben in der Tiefe sein kann – in welcher Weise könnten Christen hier konfrontieren, indem sie nicht nur Konsumorientierung und Erlebniskultur geißeln, sondern Zugänge in die jeweils eigene Tiefe auftun?

4 - Integration
Besonders das Zugehen auf christentumsferne Menschen ist eine Herausforderung, der heute begegnet werden muss – anders als dies zu Luthers Zeiten der Fall war. Konnte er sich noch weitgehend auf eine Volkskirche aller Schichten beziehen, sind wir heute weit davon entfernt, dass Christsein eine größere Relevanz selbst auch für die Getauften hat.
Wer ist gemeint mit den Fernen? Mit Blick auf unsere Gemeindestrukturen in den großen Städten lässt sich immerhin fragen, wo die Emanzipierten und Eigenwilligen, die Gebrochenen und die Unqualifizierten einen Platz haben in der Wirklichkeit des Gemeindelebens. Nichtkonforme Lebenskultur hat in einer auf bloß angepasste Anständigkeit ausgerichteten Ethik sicher keinen Platz, wie es auch die Sinus-Milieustudien zeigen. Wie auch im vorherigen Punkt benötigt das Angesprochensein von Christlichkeit sicher einen Spagat zwischen dem Ernstnehmen des persönlichen Fragens und Suchens vor allen Dogmen und dem klaren Glaubenszeugnis der Christen. Ein Insistieren auf dem Glaubensgehorsam, wie es der Präfekt der Glaubenskongregation neulich wiederholte, wird da schwerlich hilfreich sein.

5 – Verschlankung
Die Glaubwürdigkeit von Kirche leidet angesichts der Einbindung in staatliche Privilegien und Strukturen. Kirchensteuer und die Finanzierung vieler Bischofsgehälter sind ja nur zwei Themen eines Komplexes von staatskirchenrechtlichen Fragen, mit denen Kirche sich im (Dauer-)Krisenfall auseinander setzen muss.
Auch den Anfragen an staatlicherseits ermöglichten und finanzierten Religionsunterrichts an staatlich getragenen Schulen muss sich eine Gesellschaft wieder stellen, wenn die Kirchenbindung weiter abnimmt.
Das von Papst Benedikt XVI. begonnene Projekt der Entweltlichung, das sein Nachfolger Franziskus ja unter veränderten Vorzeichen fortführt, scheint eine kirchliche Verschlankung anzuregen, der ich vieles abgewinnen kann. Die Frage, was Gesellschaft und Politik sich von Kirche und Christentum tatsächlich erwarten – und legitimerweise überhaupt nur erwarten können, sucht neue Antworten.
Dabei die Religionsfreiheit für alle Religionen zu fördern und diese bei der Ausübung ihres Glaubens nicht zu behindern, ja nach Möglichkeit sogar aktiv dazu beizutragen, dass die Religionsausübung frei lebbar ist, das ist das Recht, hinter das ein Staat dabei schwerlich zurück kann. Inwieweit sich damit aber aus der Säkularisierung ererbte Ansprüche und Kirchenprivilegien verbinden müssen, ist mindestens für die deutsche Kirche neu fraglich.

Der Papst aus dem Jesuitenorden mit dem Namen des Kirchenreformers Franziskus kann mindestens (aber nicht nur) für die katholischen Christen sicher vorbildhaft sein, was diese fünf Fragen angeht. An theologischer Radikalität wird er hinter Luther nicht zurück stehen. Und was er in einem Interviewbuch für die Nation sagt, lässt sich problemlos auch für die Kirche denken: „Wir sind Menschen mit einer Geschichte. Unser Leben verläuft in Zeit und Raum. Jede Generation braucht die vorangehende und ist den nachfolgenden verpflichtet. Im Großen und Ganzen ist es das, was eine Nation ausmacht: sich als diejenigen zu verstehen, die die Ziele anderer Männer und Frauen weiterverfolgen, die ihren Teil schon gegeben haben – als Baumeister eines gemeinsamen Ortes, eines Zuhauses für die, die nach uns kommen.“1
Mit Gott selbst schlank und integrativ bauen für die Zukunft, als hörbereite und sprachfähige Christen, gleich welcher Konfession. 


1  Papst Franziskus, Mein Leben – mein Weg. Gespräche mit Jorge Mario Bergoglio. Von Sergio Rubin und Francesca Ambrogetti. Freiburg im Breisgau 2013, 188f.