Samstag, 15. März 2014

Der epistemische Unterschied, den eine Bergtour machen kann

Wie die Jünger Jesu über ihren Meister dachten, darüber können wir zu großen Teilen nur spekulieren. Nach dem Matthäusevangelium erkennt Petrus in ihm den Gesalbten Gottes, den Christus (16,16). Sonst gibt es wenige Anhaltspunkte, als wen die Fischer und Zöllner, die Zeloten und sonstigen frommen Juden den predigenden Zimmermann Jesus aus Nazareth angesehen haben.
Sicher als einen Rabbi, der mit Autorität lehrt, als Lehrer, der dem Streit mit anderen Lehrern nicht aus dem Weg geht, als Wunderheiler, mit dem man was erleben kann, als religiösen Reformer, von dem etwas zu erwarten ist, vielleicht auch als spirituellen Guru, dem nachzueifern sich lohnt.

Hügel, Britzer Garten, Neukölln, Berlin, 2014.
Bei allem, was Jesus tat und sagte, war seine Person nicht unwesentlich. Es ging denen, die ihn aufsuchten, augenscheinlich nicht nur um ein Wort oder ein Wunder, sondern auch um die Begegnung. Jesus seinerseits ging es ebenso: er brachte nicht nur eine Botschaft oder half Menschen, die es nötig hatten, sondern sein Fokus war, dass jemand ihm folgte, um seinetwillen in Verfolgung standhielt, in ihm und seinen Taten das anbrechende Gottesreich erfuhr.

In einem Buch, das ich neulich mit großer Begeisterung las, bringt es der Autor Jacob Neusner, ein gläubiger Jude, der sich mit Jesus auf der Basis der Thora auseinandersetzen will, auf den Punkt, als er sich mit dem Anspruch Jesu als jüdischer Lehrer auseinandersetzt: Er weist hin auf "den ganz persönlichen Charakter der Lehre Jesu, in der das Augenmerk auf ihn selbst und nicht auf die Botschaft gerichtet ist. Wir sehen, dass jeder ein Gelehrter der Thora werden und zu einem bestimmten Status gelangen kann. Im Umgang mit Jesus hingegen ist Jesus das einzige Vorbild. Der Satz 'Nimm das Kreuz und folge mir' heißt nicht das gleiche wie 'Studiere die Thora, die ich lehre, die ich zuvor bei meinem Meister studiert habe'. Die Aufforderungen 'folge mir' und 'folge der Thora' klingen ähnlich, sind es aber nicht. Vielmehr drücken sie einen Gegensatz aus. Jeder Israelit (früher, und heute auch jede Israelitin) kann die Thora beherrschen und Gelehrter (oder Gelehrte) werden, aber nur Jesus kann Jesus Christus sein."1
Jesus versteht sich als mehr als ein Lehrer – deshalb stellt er sich über die Gebote der Thora.

An anderer Stelle spricht Neusner Jesus darum direkt an und konfrontiert ihn mit dem Anspruch, den Jesus aus seiner Person begründet: "Meister, wie kannst du für dich selber sprechen und dich nicht auf die Lehren der Thora berufen, die Gott uns am Sinai gegeben hat? Es hat den Anschein, als betrachtetest du dich selbst als Mose oder als über Mose stehend. Die Thora des Mose erwähnt aber nicht, dass außer Mose und den anderen Propheten noch ein weiterer uns Unterweisung – Thora – bringen soll. So weiß ich nun wirklich nicht, was ich von deinem Anspruch halten soll. Du sprichst als 'Ich', aber die Thora wendet sich an ein 'Wir', das sind 'wir' vom Volke Israel, zu dem auch du gehörst."2

Treppenhaus, Kreuzberg, Berlin, 2014.
Der Anschein wird ihn nicht getrogen haben. Und diese genaue Beobachtung anhand der überlieferten Texte wird einigen ausgewählten Jüngern bestätigt, als Jesus sie auf eine Bergtour mitnimmt. Als er dann auf dem Berggipfel zu strahlen anfängt und eine ganz neue Beziehung zu zwei maßgeblichen Gestalten des Alten Testaments aufscheint, da wird den Begleitern klar, dass Gott Jesus auf diese Weise als seinen geliebten Sohn sichtbar werden lässt (vgl. Mt 17,5).

Nicht Anführer des Volkes, nicht prophetisch-mahnende Gestalt, nicht Lehrmeister, sondern Sohn des Höchsten.
Wer das erkennt, wer es mitvollziehen kann – Neusner tut es mit seinen guten Gründen nicht – der wird die Konsequenzen im eigenen Leben ziehen, auch ohne Bergtour.


1   J. Neusner, Ein Rabbi spricht mit Jesus. Freiburg i.Br. 2007, 67f.


2   Ebd., 49.