Montag, 23. September 2013

Gekonnter scheitern

In allem Streben und Mühen erfahren wir uns über uns selbst hinaus ausgestreckt – und zugleich zurückgeworfen auf die eigenen Grenzen. Wir transzendieren uns selbst in unserem Tun – und bleiben doch bei allem auch in uns gefangen. Wir wollen das Gute tun, aber wir stoßen auf die eigene Unzulänglichkeit, ganz so, wie es Paulus im Römerbrief formuliert: „das Wollen ist bei mir vorhanden, aber ich vermag das Gute nicht zu verwirklichen.“ (Röm 7,18)

Anders gesagt: Die Bewegung des eigenen Handelns bricht sich vielfach am eigenen Unvermögen, sei es nun körperlich, psychisch, charakterlich, intellektuell. Das Unvermögen begrenzt das freie Tun und übernimmt damit die Kontrolle. In diesem Sinne ist die Erfahrung der Grenze oder des Unvermögens ein Bewegungsabbruch, ein Hemmnis. Es ist eine Erfahrung von Kontrollverlust und Abhängigkeit. Abhängigkeit aber bedeutet Unfreiheit. 
Das ist paradox: Wir erfahren in unseren hohen Erwartungen an die Freiheit – Unfreiheit, während sich Freiheit doch aus vielen Erfahrungen her nahe zu legen scheint – und dabei penetrant frustriert wird.

Doch wie können uns unsere Grenzen und unser Scheitern weiterbringen, gar auf Gott verweisen?

Der erste Antwortversuch: „Ein Zunichtewerden der eigenen Pläne führt uns zur schmerzlichen, bitteren, letztlich heilvollen Erkenntnis unserer irdischen Zerbrechlichkeit. Sie bringt uns unsere Erdhaftigkeit und Bedürftigkeit zum Bewußtsein.1 Die irdischen Linien verlaufen quer zur menschlichen Ambition. Der Wille bricht sich. Nimmt man aber dieses letzte Wort nicht nur im Sinne eines Zer-Brechens, sondern versteht man es wie einen Lichtstrahl, der auf ein Prisma trifft und in anderer Frequenz und mit neuer Richtung weitergeht, dann bekommt die Aussage ein anderes Gewicht. Gebrochenes Licht verteilt sich auf neue Weise im Raum – es erreicht Winkel, in die es vorher nicht gelangt wäre und wirft dabei ein farbiges, ein wirklich „neues Licht“ auf die Dinge. „Glas funkelt heller, wo es einen Sprung hat.“2
Vom Bild zurück zur Aussage: Wenn der Mensch mit Wille und Freiheit an die Grenzen seiner selbst kommt, werfen diese ihn nicht einfach nur auf sich zurück – wenngleich dies ein wichtiger Teil des Prozesses ist. Vielmehr werden ihm durch die neuerlich bewusst gewordene Erdhaftung andere Räume gezeigt, durch die er mit neuer Perspektive weitergehen kann. Fortan aber im Bewusstsein der Brüchigkeit alles Menschlichen.

Damit zeigt sich schon eine zweite Antwort: „Jedes Scheitern, ange-nommen in Vertrauen und Demut, ist Chance und Weg zu Neubeginn in tieferer Erfahrungsdichte.“3 Doch, und das muss sofort betont werden, ist der entscheidende Fakt hier das Annehmen, das mit Geduld eingeübt werden will. Schließlich kommt eine Neuausrichtung und Neujustierung nicht von selbst, wie es das Bild von Licht und Prisma vielleicht suggerieren könnte. Es bedeutet, das Unvermögen als Unvermögen anzunehmen und nicht sofort loszulaufen, um einen neuen Versuch an derselben Stelle zu unternehmen.4 Doch wird auch dieser Anspruch oft nochmals als Grund von Scheitern wahrgenommen, schließlich verlangt das Scheitern positiv annehmen und deuten zu können bereits eine Perspektivänderung.

Deshalb ein dritter Schritt: „Leben lernen mit den Grenzen des Lebens verlangt ein Loslassen von überhöhten Selbstbildern und von Idealen, von Wunschbildern und von Vergangenem“.5 Es gilt, herunterzukommen von falschen Idealisierungen, die menschliches Wollen und Können oft mehr knechten als real gegebene Unfreiheit.
Selbstgemachte Qualen durch extravagante Ansprüche suggerieren Grenzen, wo keine sein müssten. Zugleich macht das Loslassen überhöhter Erwartungen barmherziger sich selbst gegenüber, aber auch gegenüber den Nächsten.6
Dies bedeutet einen Erfahrungsfortschritt, der zugleich Freiheitsgewinn ist.

Um den religiösen oder christlichen Umgang mit Grenzen zu verstehen, genügen aber diese rein menschlich-psychologischen Kategorien, so wertvoll sie sind, doch noch nicht. Denn das ist ein spiritueller Schritt.
Kann das eigene Unvermögen mit seinen Frustrationen unreduziert angenommen werden, dann führt es weiter, indem dahinter ein Haltepunkt sichtbar wird, der im „vermögenden“ Zustand nicht zu erwarten war. „Erst wenn ich bei allem Kämpfen spüre, dass ich mich selbst nicht besser machen kann, erkenne ich, was Gnade wirklich bedeutet“.7 Gnade nämlich ist es, wenn ich mich als ganz Armer vor Gott finde und sehe, dass mein Heil und selbst der Anweg zu diesem Heil hin nicht in meinen Händen liegt.8 Tatsächlich können wir erfahren: „Wenn wir die eigene Ohnmacht in unserem Streben nach Vollkommenheit eingestehen, dann ist gerade dieser Tiefpunkt eine Chance, uns ganz und gar in Gott hinein zu ergeben.“9 Diese Chance gilt es zu nutzen – und dazu gehört, die eigene Bedürftigkeit nicht von sich weg zu schieben und die Grenzen zu ignorieren, sondern eben im Bewusstsein des Unvermögens den Weg im Vertrauen auf den Herrn zu wagen.
In sehr schöner Weise wird dies deutlich im Stundengebet der Kirche, dessen Horen mit der Bitte beginnen: „O Gott, komm mir zu Hilfe. – Herr, eile mir zu helfen.“ – eine Erinnerung, dass wir nicht aus Eigenem Gott anrufen und verherrlichen, sondern sogar um das Beten-Können immer wieder bitten müssen.10
Es bedeutet auch, dass wir „noch mit der Beule am Kopf Gott loben und preisen11 können und dass Gott uns gerade dann, als mit Schrammen und Narben Bedeckte, als vollkommen an ihn Ausgelieferte hören und erhören kann. Denn dann sind vielleicht trügerische Mauern vermeintlicher Selbstbeherrschung und Souveränität am Scheitern zerbrochen und nicht nur der enthusiastische Wille der Freiheit. So hat es auch Paulus erfahren, wenn er an die Korinther schreibt: „Ich will mich meiner Schwachheit rühmen, damit die Kraft Christi auf mich herabkommt.“ (2 Kor 12,9)
An diesem Punkt nämlich wird sich zeigen, wohin unser Blick eigentlich geht – ob er sich festkrallt im eigenen Versagen und nichts weiter will als sich darin zu suhlen – oder ob er sich ausrichten lässt auf die Barmherzigkeit des Gottes, der in Jesus von Nazareth noch sein Kreuz, das er für die Welt trug, aus Schwachheit mittragen lassen musste von Simon von Zyrene (vgl. Mk 15,21).

Richte ich mich auf das Erbarmen Gottes aus, dann wird sich die Erfahrung einstellen, dass ich auch im Zerbrechen noch gehalten bin, auch meine Sünde und alles Versagen wird dann zum Verweis auf die Gnade, die alles hält. Das Verwiesensein in die eigenen Grenzen wird zum Verweis auf die grenzenlose Liebe Gottes, der gnaden-voll ist und den armen Sünder, mich, trotzdem liebt.
Das Vertrauen auf Gott wird Menschen immer wieder befreiend über die Schranken ihrer selbst hinausführen, indem es ihnen hilft, Gott dort zu suchen und zu finden, wo er im Gefühl der eigenen Kraft und Kontrolle nicht zu vermuten war.



1   E. Wilke, In der Talsohle unseres Daseins. Über das Scheitern. In: CiG 1997, 397.
2   L. Bernstein, zit. nach: H. Schaller, Ja zu meinen Umwegen. Mainz 1990, 105.
3   E. Wilke, a.a.O., 397.
4   W. Lambert, Gott umarmt uns durch die Wirklichkeit. Mainz 1998, 19f spricht hier von der geduldigen Suche nach „Grenzübergängen“, die durchaus Mut und Phantasie erfordern.
5   J. Maureder, Mensch werden – erfüllt leben. Würzburg 2007, 78.
6   Vgl. G. v. Le Fort, In: G. Greene, Vom Paradox des Christentums. Mit einem Geleitwort von G. von Le Fort. Zürich 1952, 12: „Ja es ergibt sich das Erschütternde, dass er an sich selbst staunend erfährt, wie ihn die eigene Unzulänglichkeit und Heruntergekommenheit erbarmender macht, aber freilich auch hellhöriger und verletzbarer gegenüber jenen falschen Tönen, deren sich oft gerade die sogenannten Frommen schuldig machen.“

7   A. Grün, M. Dufner, Spiritualität von unten. 5. Aufl. Münsterschwarzach 2005 (Münsterschwarzacher Klein-schriften 82), 102.
8   Vgl. Röm 2,4: „Weißt du nicht, dass Gottes Güte dich zur Umkehr treibt?“
9   Vgl. A. Grün, M. Dufner, a.a.O., 104.
10   Ähnliches zeigt Röm 8,26, wo Paulus schreibt: „...wir wissen nicht, worum wir in rechter Weise beten sollen; der Geist selber tritt jedoch für uns ein mit unaussprechlichen Seufzern...“
11   W. Lambert, a.a.O., 21.