In
allem Streben und Mühen erfahren wir uns über uns selbst hinaus
ausgestreckt – und zugleich zurückgeworfen auf die eigenen
Grenzen. Wir transzendieren uns selbst in unserem Tun – und bleiben
doch bei allem auch in uns gefangen. Wir wollen das Gute tun, aber
wir stoßen auf die eigene Unzulänglichkeit, ganz so, wie es Paulus
im Römerbrief formuliert: „das Wollen ist bei mir vorhanden, aber
ich vermag das Gute nicht zu verwirklichen.“ (Röm 7,18)
Anders gesagt: Die Bewegung des eigenen Handelns bricht sich vielfach am eigenen Unvermögen, sei es nun körperlich, psychisch, charakterlich, intellektuell. Das Unvermögen begrenzt das freie Tun und übernimmt damit die Kontrolle. In diesem Sinne ist die Erfahrung der Grenze oder des Unvermögens ein Bewegungsabbruch, ein Hemmnis. Es ist eine Erfahrung von Kontrollverlust und Abhängigkeit. Abhängigkeit aber bedeutet Unfreiheit.
Das
ist paradox: Wir erfahren in unseren hohen Erwartungen an die
Freiheit – Unfreiheit, während sich Freiheit doch aus vielen
Erfahrungen her nahe zu legen scheint – und dabei penetrant
frustriert wird.
Doch
wie können uns unsere Grenzen und unser Scheitern weiterbringen,
gar auf Gott verweisen?
Der
erste Antwortversuch: „Ein Zunichtewerden der eigenen Pläne führt
uns zur schmerzlichen, bitteren, letztlich heilvollen Erkenntnis
unserer irdischen Zerbrechlichkeit. Sie bringt uns unsere
Erdhaftigkeit und Bedürftigkeit zum Bewußtsein.“1
Die irdischen Linien verlaufen quer zur menschlichen Ambition. Der
Wille bricht sich. Nimmt man aber dieses letzte Wort nicht nur im
Sinne eines Zer-Brechens, sondern versteht man es wie einen
Lichtstrahl, der auf ein Prisma trifft und in anderer Frequenz und
mit neuer Richtung weitergeht, dann bekommt die Aussage ein anderes
Gewicht. Gebrochenes Licht verteilt sich auf neue Weise im Raum –
es erreicht Winkel, in die es vorher nicht gelangt wäre und wirft
dabei ein farbiges, ein wirklich „neues Licht“ auf die Dinge.
„Glas funkelt heller, wo es einen Sprung hat.“2
Vom
Bild zurück zur Aussage: Wenn der Mensch mit Wille und Freiheit an
die Grenzen seiner selbst kommt, werfen diese ihn nicht einfach nur
auf sich zurück – wenngleich dies ein wichtiger Teil des Prozesses
ist. Vielmehr werden ihm durch die neuerlich bewusst gewordene
Erdhaftung andere Räume gezeigt, durch die er mit neuer Perspektive
weitergehen kann. Fortan aber im Bewusstsein der Brüchigkeit alles
Menschlichen.
Damit
zeigt sich schon eine zweite Antwort: „Jedes Scheitern, ange-nommen
in Vertrauen und Demut, ist Chance und Weg zu Neubeginn in tieferer
Erfahrungsdichte.“3
Doch, und das muss sofort betont werden, ist der entscheidende Fakt
hier das Annehmen, das mit Geduld eingeübt werden will. Schließlich
kommt eine Neuausrichtung und Neujustierung nicht von selbst, wie es
das Bild von Licht und Prisma vielleicht suggerieren könnte. Es
bedeutet, das Unvermögen als Unvermögen anzunehmen und nicht
sofort loszulaufen, um einen neuen Versuch an derselben Stelle zu
unternehmen.4
Doch wird auch dieser Anspruch oft nochmals als Grund von Scheitern
wahrgenommen, schließlich verlangt das Scheitern positiv annehmen
und deuten zu können bereits eine Perspektivänderung.
Deshalb
ein dritter Schritt: „Leben lernen mit den Grenzen des Lebens
verlangt ein Loslassen von überhöhten Selbstbildern und von
Idealen, von Wunschbildern und von Vergangenem“.5
Es gilt, herunterzukommen von falschen Idealisierungen, die
menschliches Wollen und Können oft mehr knechten als real gegebene
Unfreiheit.
Selbstgemachte
Qualen durch extravagante Ansprüche suggerieren Grenzen, wo keine
sein müssten. Zugleich macht das Loslassen überhöhter Erwartungen
barmherziger sich selbst gegenüber, aber auch gegenüber den
Nächsten.6
Dies
bedeutet einen Erfahrungsfortschritt, der zugleich Freiheitsgewinn
ist.
Um den
religiösen oder christlichen Umgang mit Grenzen zu verstehen,
genügen aber diese rein menschlich-psychologischen Kategorien, so
wertvoll sie sind, doch noch nicht. Denn das ist ein spiritueller
Schritt.
Kann
das eigene Unvermögen mit seinen Frustrationen unreduziert
angenommen werden, dann führt es weiter, indem dahinter ein
Haltepunkt sichtbar wird, der im „vermögenden“ Zustand nicht zu
erwarten war. „Erst wenn ich bei allem Kämpfen spüre, dass ich
mich selbst nicht besser machen kann, erkenne ich, was Gnade wirklich
bedeutet“.7
Gnade nämlich ist es, wenn ich mich als ganz Armer vor Gott finde
und sehe, dass mein Heil und selbst der Anweg zu diesem Heil hin
nicht in meinen Händen liegt.8
Tatsächlich können wir erfahren: „Wenn wir die eigene Ohnmacht in
unserem Streben nach Vollkommenheit eingestehen, dann ist gerade
dieser Tiefpunkt eine Chance, uns ganz und gar in Gott hinein zu
ergeben.“9
Diese Chance gilt es zu nutzen – und dazu gehört, die eigene
Bedürftigkeit nicht von sich weg zu schieben und die Grenzen zu
ignorieren, sondern eben im Bewusstsein des Unvermögens den Weg im
Vertrauen auf den Herrn zu wagen.
In
sehr schöner Weise wird dies deutlich im Stundengebet der Kirche,
dessen Horen mit der Bitte beginnen: „O Gott, komm mir zu Hilfe. –
Herr, eile mir zu helfen.“ – eine Erinnerung, dass wir nicht aus
Eigenem Gott anrufen und verherrlichen, sondern sogar um das
Beten-Können immer wieder bitten müssen.10
Es
bedeutet auch, dass wir „noch mit der Beule am Kopf Gott loben und
preisen“11
können und dass Gott uns gerade dann, als mit Schrammen und Narben
Bedeckte, als vollkommen an ihn Ausgelieferte hören und erhören
kann. Denn dann sind vielleicht trügerische Mauern vermeintlicher
Selbstbeherrschung und Souveränität am Scheitern zerbrochen und
nicht nur der enthusiastische Wille der Freiheit. So hat es auch
Paulus erfahren, wenn er an die Korinther schreibt: „Ich will mich
meiner Schwachheit rühmen, damit die Kraft Christi auf mich
herabkommt.“ (2 Kor 12,9)
An
diesem Punkt nämlich wird sich zeigen, wohin unser Blick eigentlich
geht – ob er sich festkrallt im eigenen Versagen und nichts weiter
will als sich darin zu suhlen – oder ob er sich ausrichten lässt
auf die Barmherzigkeit des Gottes, der in Jesus von Nazareth noch
sein Kreuz, das er für die Welt trug, aus Schwachheit mittragen
lassen musste von Simon von Zyrene (vgl. Mk 15,21).
Richte
ich mich auf das Erbarmen Gottes aus, dann wird sich die Erfahrung
einstellen, dass ich auch im Zerbrechen noch gehalten bin, auch meine
Sünde und alles Versagen wird dann zum Verweis auf die Gnade, die
alles hält. Das Verwiesensein in die eigenen Grenzen wird zum
Verweis auf die grenzenlose Liebe Gottes, der gnaden-voll ist und den
armen Sünder, mich, trotzdem liebt.
Das
Vertrauen auf Gott wird Menschen immer wieder befreiend über die
Schranken ihrer selbst hinausführen, indem es ihnen hilft, Gott dort
zu suchen und zu finden, wo er im Gefühl der eigenen Kraft und
Kontrolle nicht zu vermuten war.
1 E.
Wilke, In der Talsohle unseres Daseins. Über das Scheitern.
In: CiG 1997, 397.
2 L.
Bernstein, zit. nach: H. Schaller, Ja zu meinen Umwegen.
Mainz 1990, 105.
3 E.
Wilke, a.a.O., 397.
4 W.
Lambert, Gott umarmt uns durch die
Wirklichkeit. Mainz 1998, 19f
spricht hier von der geduldigen Suche nach „Grenzübergängen“,
die durchaus Mut und Phantasie erfordern.
5 J.
Maureder, Mensch werden – erfüllt leben. Würzburg 2007,
78.
6 Vgl.
G. v. Le Fort, In: G. Greene, Vom Paradox des Christentums.
Mit einem Geleitwort von G. von Le Fort. Zürich 1952, 12: „Ja es
ergibt sich das Erschütternde, dass er an sich selbst staunend
erfährt, wie ihn die eigene Unzulänglichkeit und
Heruntergekommenheit erbarmender macht, aber freilich auch
hellhöriger und verletzbarer gegenüber jenen falschen Tönen,
deren sich oft gerade die sogenannten Frommen schuldig machen.“
7 A.
Grün, M. Dufner, Spiritualität von unten. 5. Aufl.
Münsterschwarzach 2005 (Münsterschwarzacher Klein-schriften 82),
102.
8 Vgl.
Röm 2,4: „Weißt du nicht, dass Gottes Güte dich zur Umkehr
treibt?“
9 Vgl.
A. Grün, M. Dufner, a.a.O., 104.
10 Ähnliches
zeigt Röm 8,26, wo Paulus schreibt: „...wir wissen nicht, worum
wir in rechter Weise beten sollen; der Geist selber tritt jedoch für
uns ein mit unaussprechlichen Seufzern...“
11 W.
Lambert, a.a.O., 21.