Ich halte den 27. Januar für einen der
wichtigsten staatlichen Gedenktage. Er erinnert am Tag der Befreiung
des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee an alle Opfer
des Nationalsozialismus.
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Erinnern schwebt
zwischen bewusstem Entschluss und nicht bewusstem Fakt. Manches kann
ich mir „ins Gedächtnis rufen“, manches „fällt mir ein“,
ungewollt, spontan, überraschend. Erinnernd kehren wir mental zurück
in bestimmte Situationen und tauchen zu Teilen wieder in sie ein.
Emotionales und Rationales durchdringen sich beim Erinnern
ebenso wie die verschiedenen Ziele und Wünsche.
Bewusste und
regulierte Erinnerung kann bei vielen Traumata ein Weg zur Heilung
sein, wenn es auch kein einfacher Weg ist. Auf einer Arbeit von
Astrid Klein in der Neuen Nationalgalerie steht: „Ich
erinnere mich pathetisch, punktuell und nicht philosophisch,
diskursiv: ich erinnere mich, um glücklich unglücklich zu sein –
nicht um zu begreifen.“1
Dach einer Laubhütte, Jüdisches Museum Berlin, 2014. |
2
Im Jüdischen Museum
Berlin ist noch bis zum 09. Februar die spannende Ausstellung „Alles hat seine Zeit. Rituale gegen das Vergessen“ zu sehen. Vorgestellt werden in sehr ästhetischem Arrangement
Erinnerungsrituale zu den verschiedensten Themen, wie Gottes Wort,
den verlorenen Tempel, die Endlichkeit, die Wanderung in der Wüste,
das Gesetz – und eben auch die Shoah.
Erinnern entreißt
die Dinge dem allmählichen Verschwinden und löst Tabus durch
Erinnerungsrituale auf. Eben dadurch werden aber andere Tabus
möglicherweise erst geschaffen, wie die Künstlerin Quintan
Ana Wikswo in der Ausstellung zeigt, indem sie die bislang nicht ins
öffentliche Erinnerungsbewusstsein gelangte Ausbeutung von Frauen im
Lagerbordell künstlerisch reflektiert.
3
Ist eine künstlerische
Annäherung an das Grauen, das Menschen in diesen Jahren erleben
mussten, möglich? Nicht nur Theoror W. Adorno hatte dazu seine
kontrovers diskutierte Meinung, auch Erich Kästner gab in der Vorrede seines Tagebuchs zum
Kriegsende eine zweifache Antwort:
Bänke vor Mauer, Berlin-Mitte, 2014. |
Meine
Skepsis gilt dem umfassenden Versuch, dem kolossalen Zeitgemälde,
nicht dem epischen oder dramatischen Segment, den kleinen Bildern aus
dem großen Bild. Sie sind möglich, und es gibt sie. Doch auch hier
steht Kunst, die sich breitmacht, dem Ziel im Weg. Das Ziel liegt
hinter unserem Rücken, wie Sodom und Gomorrha, a1s Lots Weib sich
umwandte. Wir müssen zurückblicken, ohne zu erstarren. Wir müssen
der Vergangenheit ins Gesicht sehen. Es ist ein Medusengesicht, und
wir sind ein vergeßliches Volk. Kunst? Medusen schminkt man nicht.“2
„Zurückblicken, ohne zu
erstarren“! Was für eine Forderung – und zugleich: Was für eine
Zurückhaltung! Kästner selbst hält sich an die kleine Form,
reflektiert sein eigenes Erleben und beschränkt sich weitgehend auf
die Publikation seines Tagebuches zu diesem Thema.
Die Überlebenden von
Auschwitz und anderen Lagern, von Primo Levi und Imre Kertesz über
Elie Wiesel bis Jean Améry, wurden durch ihre Erlebnisse
glücklicherweise nicht gehindert, diese literarisch zu formen und
ihre Traumata auf diese Weise in Worte zu fassen.
4
In einem Gespräch
zwischen Elie Wiesel und Jorge Semprun versuchen beide, sich dem
Erinnern und seinem Ausdruck in Worten anzunähern.
Elie Wiesel: „Schweigen
ist verboten, Sprechen ist unmöglich. Ich hatte immer die Angst,
mein Gedächtnis zu verlieren. Ich weiß, daß das Gedächtnis immer
sehr gefährdet ist. Es läßt nach. Gibt es Dinge, die ich vergessen
habe? Gibt es Gesichter, die nicht mehr in meinem Gesicht, in meinem
Blick sind? Gibt es Gesten, die nicht mehr da sind, zu denen ich
keinen Zugang mehr habe? Also, was tun? Was soll man tun, um alles zu
sagen, um das sagen zu können, was gesagt werden muss? Der
Schriftsteller, der ich bin und der du bist, kann einfach nicht
umhin, sich diese Fragen zu stellen.“
Jorge Semprun: „Als
Schriftsteller spreche ich von meiner Beziehung zum Schreiben. Eine
Zeitlang, fünfzehn Jahre lang, mußte ich schweigen, um zu
überleben. Das ist übrigens eine weit verbreitete Erfahrung. [...]
Nach dem jeweils letzten Buch habe ich noch mehr zu sagen als vor dem
ersten. Als ob das Vergessen so vollständig gewesen wäre, daß es
der Arbeit des Schreibens, der bewußten Erforschung der
Vergangenheit bedurft hätte. Bilder, Erinnerungen, Gesichter,
Anekdoten, ja selbst Empfindungen kehren zurück. Daher meine
Theorie, daß es ein unerschöpfliches Schreiben ist, zugleich
möglich und unerschöpflich. Man kann etwas sagen, wird aber nie
alles gesagt haben. Man kann jedes Mal mehr sagen.“3
Schweigen und Sprechen
stehen im Erinnerungsprozess in einem schwankenden, einem
ambivalenten und spannungsreichen Verhältnis. Wer sich erinnern
will, muss seine je eigene Balance finden.
Spiegel auf U-Bahnsteig, Dahlem, Berlin, 2014. |
5
Welches auch immer die Balance von Paul
Celan war, er hat eines der meiner Meinung nach eindrücklichsten
Gedichte geschrieben, die das Lager erinnern. Seine „Todesfuge“
beginnt er:
„Schwarze Milch der Frühe wir
trinken sie abends
wir trinken sie mittags und morgens wir
trinken sie nachts
wir trinken und trinken“
wir trinken und trinken“
Womöglich ist es diese "schwarze
Milch" der Erinnerungen, die er nicht austrinken kann, die ihn
nährt, die ihn vergiftet, die immer da ist und sich in seine
Gedichte gießt, damit wir sie kennen.
Durch unser Mit-Erinnern und unser
Nach-Erinnern stellen wir uns an die Seite der Opfer, wir schauen, um
zu schweigen und um zu sprechen – und nicht um zu erstarren.