Dienstag, 14. Januar 2014

Von Staunen und Gottesmord – "Das Kartengeheimnis" von Jostein Gaarder

Vor ein paar Wochen habe ich noch einmal zu einem meiner früheren Lieblingsbücher gegriffen und mich erneut über Jostein Gaarders "Das Kartengeheimnis" hergemacht. Dass der Autor aus Jugendperspektive und für junge Leser anspruchsvoll über philosophische Themen schreiben kann, ist hinlänglich bekannt und mit einer Menge Preisen bedacht worden.
Mir fiel darüber hinaus bei der erneuten Lektüre v.a. der theologische Gehalt des Buches auf, aus dem ich kurz einige Aspekte nennen möchte.

1
Der Joker erscheint im Buch als eine schillernde Gestalt, die nicht zu den übrigen Farben und Werten eines Kartenspieles passt und mit dessen herausgehobenem Charakter sich der staunend-fragende Ich-Erzähler und sein Vater identifizieren. Er stellt in der vom Ich-Erzähler gelesenen Geschichte (wie auch Vater und Sohn in der Rahmenhandlung) die entscheidenden Fragen, welche schließlich zum Einsturz einer phantastischen Inselwelt führen. Die letzten Wortes des Buches sind auch die seinen und stellen die Fragen: "Wer sind wir? Woher kommen wir?"1
Dieses philosophische Fragen zieht sich, wie auch in "Sofies Welt", durch das ganze Buch. Besonders interessant ist nun eine Stelle, die sich fast wie aus dem Evangelium abgeschrieben anhört. In der dritten Person spricht der Joker über sich: "Der Joker hat oft und oft versucht, die Wahrheit zu erzählen, aber ihr hattet keine Ohren, um zu hören. Oder ihr hattet sie, aber die Gehörgänge waren von Äpfeln und Birnen, Erdbeeren und Bananen verstopft. Ihr hattet wohl Augen, um zu sehen, aber was hilft das, wenn die Augen immer nur nach Flaschen und Karaffen Ausschau halten?"2
Ähnlich wie in Mt 13,13ff (oder in dessen Vorlagen Jes 6,9f und Jer 5,21) wird die Blindheit für das Eigentliche (wie sich zeigen wird, ist dies in erster Linie die Frage nach der Herkunft) bemängelt – hier ausgelöst durch die Gier nach substanzinduzierten Vergnügungen.

Blick vom Völkerschlachtdenkmal gen Südwesten. Leipzig, 2013.

2
Zur eigentlichen Gottesfrage kommt es beim Thema Schöpfung. Ebenso wie sich der junge Erzähler in der Rahmenhandlung die Frage nach dem Woher aller Dinge stellt – "Ich konnte nicht begreifen, wie etwas aus nichts entstehen konnte."3 –, tut es der Joker in der Binnenhandlung. Denn die Insel wird bevölkert von den Karten, mit denen der Schiffbrüchige Frode sich zunächst die Zeit vertrieb, bis aus seiner Phantasie lebendige Wesen wurden. Die Absurdität dieses Vorgangs bringt wiederum der Joker auf den Punkt: "Wir sind Frodes Phantasien [...]. Aber eines Tages wurden die Phantasien so lebendig, daß sie aus seinem Kopf entsprungen sind. Unmöglich! sagt der Joker. Ebenso unmöglich wie die Sonne und der Mond, sagt er. Aber auch die Sonne und der Mond sind wahr."4
Dass da etwas ist und nicht nichts, ist seit Leibnitz eine Grundfrage der Philosophie – und wird im Rückgreifen auf die möglichen Antworten eine religiöse Frage. Will man sie auch im Letzten beantworten, kommt man an der Gottesfrage – und damit an einer Entscheidung – nicht vorbei. Jostein Gaarder formuliert eine Antwort im Kontext der Erzählung: "Eines Tages springen die Phantasien aus dem schaffenden Raum in den geschaffenen Raum."5 Für den studierten Theologen legt sich die gottbejahende Antwort nahe, auch wenn er auf missionarischen Impetus verzichtet.
Für die Kartenfiguren ist diese Erkenntnis das Ende ihrer Blindheit.

3
Im Raum der Binnenhandlung ist die Konsequenz aus der Erkenntnis, dass ihr Schöpfer mitten unter den Kartenfiguren lebt, eine äußerst drastische. Dazu eine etwas längere Passage:
"Diesmal ergriff der Karo König das Wort: "Es ist sehr traurig, daß der Joker uns die Wahrheit erzählt hat", sagte er. "Denn das bedeutet, daß der Meister sterben muß."
"Und warum muß der Meister sterben?" fragte der Joker. "Man muß immer eine Regel nennen können, bevor man sticht."
Der Karo König antwortete ihm: "Solange Frode hier im Dorf umhergeht, wird er uns daran erinnern, daß wir künstliche Wesen sind – deshalb muß er durch das Schwert der Buben sterben."
Nun stieg der Joker vom Tisch. Er blickte zuerst zu Frode, dann wandte er sich wieder an die Könige: „Es ist nicht gut, wenn Werk und Meister zu eng beieinander leben. Die Gefahr ist groß, daß sie einander auf die Nerven fallen. Aber wir können Frode auch nicht vorwerfen, daß er eine so lebhafte Phantasie hat. Er kann nichts dafür, wenn seine Phantasien sich am Ende selbständig machen.""6
Äußerst bemerkenswert finde ich den von Gaarder angeführten Grund für das Folgende: Es ist die ständige Erinnerung daran, dass man nicht aus sich selbst lebt, sondern sein Leben einem anderen verdankt, die schließlich in die Entscheidung zum Gottesmord führt. Emanzipation vom Schöpfer heißt, sich nicht an ihn erinnern zu müssen.7

Packer auf Tisch, Waidmannslust, Berlin, 2013.

Auch die letzte Beschwichtigung, dass eine lebhafte Phantasie nicht schuldhaft sei (Moraltheologie winkt), hilft da nichts mehr. Glücklicherweise stirbt der Schöpfer nach dieser Erkenntnis und der daraus resultierenden Drohung seiner Geschöpfe nun von selbst. Immerhin kann summiert werden:
"Wir stehen jetzt auf eigenen Füßen", sagte schließlich der Joker. "Denn nun ist Frode tot, und seine eigenen Geschöpfe haben ihn ermordet."8
Die Autonomieforderung der neuzeitlichen Religionskritik liegt klar zu Tage. Erst wenn kein Schöpfer mehr den Himmel über dem Menschen beherrscht, so die These, kann dieser wirklich frei und auf sich selbst gestellt leben.
Doch Nietzsches Weitsicht9 bestätigt sich, wenn es nach dem Tod des Meisters sofort heißt: "Ich fühlte mich so leer und einsam, wie ein Mensch sich nur fühlen kann. Plötzlich war ich ganz allein auf dieser seltsamen Insel."10

4
Dem Joker hilft dies nichts. Auch der Überbringer der schlechten Neuigkeiten muss verschwinden, damit das Nichterinnern wirken kann. Der eigentlich Erleuchtete muss für seine Wahrheit sterben:
"Wir werden den, der uns zum Narren gehalten hat, erst los, wenn wir uns auch seines Narren entledigt haben. Buben! Haut dem Schelm sofort den Kopf ab!"11
Der Jesus-Vergleich ist sicher zu weit gegriffen, aber fern Verwandtes liest sich immerhin auch im Gleichnis von den Pächtern im Weinberg: "Als die Winzer den Sohn sahen, sagten sie zueinander: Das ist der Erbe. Auf, wir wollen ihn töten, damit wir seinen Besitz erben. Und sie packten ihn, warfen ihn aus dem Weinberg hinaus und brachten ihn um." (Mt 21,38f)

5
Eine solch mörderische Welt zerstört sich schließlich selbst – nach des Schöpfers Tod schrumpft die Insel denn auch in sich zusammen und verschwindet schließlich völlig im Meer. Ein Hauch von Modernekritik und Kulturpessimismus scheint mir schon über diese Seiten zu wehen...
Doch in der Rahmenhandlung findet die Reise des Ich-Erzählers einen glücklichen Abschluss, der in der Wiedervereinigung seiner Eltern gipfelt. Schlussendlich wird dazu noch einmal Paulus zitiert:
"...das Größte von allem ist die Liebe."12


1  J. Gaarder, Das Kartengeheimnis. München / Wien 1995, 341.

2  Ebd., 267f.

3  Ebd., 165. Im selben Kapitel findet sich die in ähnliche Richtung zielende Aussage des Vaters: "Sich dafür zu interessieren, wer die Menschen sind und woher die Welt kommt, ist ein so ungeheuer seltenes Hobby, dass wir es ziemlich allein betreiben." (164)

4  Ebd., 268.

5  Ebd., 326.

6  Ebd., 269.

7  Zugleich muss natürlich erinnert werden, dass die Unterschiede eines einsamen Mannes auf seiner Insel zum allmächtigen Schöpfergott so evident offenbar sind, dass hier natürlich eine immer unähnlicher bleibende Analogie vorliegt.

8  A.a.O., 270.

9  In "Die fröhliche Wissenschaft" lauten die entscheidenden Rufe des "tollen Menschen": "Wohin ist Gott?" rief er, "ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet - ihr und ich! Wir sind seine Mörder! Aber wie haben wir das gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht?"

10  J. Gaarder, a.a.O., 269f.

11  Ebd., 270.


12  Ebd., 341.