Vor ein paar Wochen habe ich noch
einmal zu einem meiner früheren Lieblingsbücher gegriffen und mich
erneut über Jostein Gaarders "Das Kartengeheimnis"
hergemacht. Dass der Autor aus Jugendperspektive und für junge Leser
anspruchsvoll über philosophische Themen schreiben kann, ist
hinlänglich bekannt und mit einer Menge Preisen bedacht worden.
Mir fiel darüber hinaus bei der
erneuten Lektüre v.a. der theologische Gehalt des Buches auf, aus
dem ich kurz einige Aspekte nennen möchte.
1
Der Joker erscheint im Buch als eine
schillernde Gestalt, die nicht zu den übrigen Farben und Werten
eines Kartenspieles passt und mit dessen herausgehobenem Charakter
sich der staunend-fragende Ich-Erzähler und sein Vater
identifizieren. Er stellt in der vom Ich-Erzähler gelesenen
Geschichte (wie auch Vater und Sohn in der Rahmenhandlung) die
entscheidenden Fragen, welche schließlich zum Einsturz einer
phantastischen Inselwelt führen. Die letzten Wortes des Buches sind
auch die seinen und stellen die Fragen: "Wer sind wir? Woher
kommen wir?"1
Dieses philosophische Fragen zieht
sich, wie auch in "Sofies Welt", durch das ganze Buch.
Besonders interessant ist nun eine Stelle, die sich fast wie aus dem
Evangelium abgeschrieben anhört. In der dritten Person spricht der
Joker über sich: "Der Joker hat oft und oft versucht, die
Wahrheit zu erzählen, aber ihr hattet keine Ohren, um zu hören.
Oder ihr hattet sie, aber die Gehörgänge waren von Äpfeln und
Birnen, Erdbeeren und Bananen verstopft. Ihr hattet wohl Augen, um zu
sehen, aber was hilft das, wenn die Augen immer nur nach Flaschen und
Karaffen Ausschau halten?"2
Ähnlich wie in Mt 13,13ff (oder in
dessen Vorlagen Jes 6,9f und Jer 5,21) wird die Blindheit für das
Eigentliche (wie sich zeigen wird, ist dies in erster Linie die Frage
nach der Herkunft) bemängelt – hier ausgelöst durch die Gier nach
substanzinduzierten Vergnügungen.
Blick vom Völkerschlachtdenkmal gen Südwesten. Leipzig, 2013. |
2
Zur eigentlichen Gottesfrage kommt es
beim Thema Schöpfung. Ebenso wie sich der junge Erzähler in der
Rahmenhandlung die Frage nach dem Woher aller Dinge stellt – "Ich
konnte nicht begreifen, wie etwas aus nichts entstehen konnte."3
–, tut es der Joker in der Binnenhandlung. Denn die Insel wird
bevölkert von den Karten, mit denen der Schiffbrüchige Frode sich
zunächst die Zeit vertrieb, bis aus seiner Phantasie lebendige Wesen
wurden. Die Absurdität dieses Vorgangs bringt wiederum der Joker auf
den Punkt: "Wir sind Frodes Phantasien [...]. Aber eines
Tages wurden die Phantasien so lebendig, daß sie aus seinem Kopf
entsprungen sind. Unmöglich! sagt der Joker. Ebenso unmöglich wie
die Sonne und der Mond, sagt er. Aber auch die Sonne und der Mond
sind wahr."4
Dass da etwas ist und nicht nichts, ist
seit Leibnitz eine Grundfrage der Philosophie
– und wird im Rückgreifen auf die möglichen Antworten eine
religiöse Frage. Will man sie auch im Letzten beantworten, kommt man
an der Gottesfrage – und damit an einer Entscheidung – nicht
vorbei. Jostein Gaarder formuliert eine Antwort im Kontext der
Erzählung: "Eines Tages springen die Phantasien aus dem
schaffenden Raum in den geschaffenen Raum."5
Für den studierten Theologen legt sich die gottbejahende Antwort
nahe, auch wenn er auf missionarischen Impetus verzichtet.
Für die Kartenfiguren ist diese
Erkenntnis das Ende ihrer Blindheit.
3
Im Raum der Binnenhandlung ist die
Konsequenz aus der Erkenntnis, dass ihr Schöpfer mitten unter den
Kartenfiguren lebt, eine äußerst drastische. Dazu eine etwas
längere Passage:
"Diesmal
ergriff der Karo König das Wort: "Es ist sehr traurig, daß der
Joker uns die Wahrheit erzählt hat", sagte er. "Denn das
bedeutet, daß der Meister sterben muß."
"Und warum muß der Meister
sterben?" fragte der Joker. "Man muß immer eine Regel
nennen können, bevor man sticht."
Der Karo König antwortete ihm:
"Solange Frode hier im Dorf umhergeht, wird er uns daran
erinnern, daß wir künstliche Wesen sind – deshalb muß er durch
das Schwert der Buben sterben."
Nun stieg der
Joker vom Tisch. Er blickte zuerst zu Frode, dann wandte er sich
wieder an die Könige: „Es ist nicht gut, wenn Werk und Meister zu
eng beieinander leben. Die Gefahr ist groß, daß sie einander auf
die Nerven fallen. Aber wir können Frode auch nicht vorwerfen, daß
er eine so lebhafte Phantasie hat. Er kann nichts dafür, wenn seine
Phantasien sich am Ende selbständig machen.""6
Äußerst bemerkenswert finde ich den
von Gaarder angeführten Grund für das Folgende: Es ist die ständige
Erinnerung daran, dass man nicht aus sich selbst lebt, sondern sein
Leben einem anderen verdankt, die schließlich in die Entscheidung
zum Gottesmord führt. Emanzipation vom Schöpfer heißt, sich nicht
an ihn erinnern zu müssen.7
Packer auf Tisch, Waidmannslust, Berlin, 2013. |
Auch die letzte Beschwichtigung, dass
eine lebhafte Phantasie nicht schuldhaft sei (Moraltheologie winkt),
hilft da nichts mehr. Glücklicherweise stirbt der Schöpfer nach
dieser Erkenntnis und der daraus resultierenden Drohung seiner
Geschöpfe nun von selbst. Immerhin kann summiert werden:
"Wir stehen jetzt auf eigenen
Füßen", sagte schließlich der Joker. "Denn nun ist Frode
tot, und seine eigenen Geschöpfe haben ihn ermordet."8
Die Autonomieforderung der
neuzeitlichen Religionskritik liegt klar zu Tage. Erst wenn kein
Schöpfer mehr den Himmel über dem Menschen beherrscht, so die
These, kann dieser wirklich frei und auf sich selbst gestellt leben.
Doch Nietzsches Weitsicht9
bestätigt sich, wenn es nach dem Tod des Meisters sofort heißt:
"Ich fühlte mich so leer und einsam, wie ein Mensch sich nur
fühlen kann. Plötzlich war ich ganz allein auf dieser seltsamen
Insel."10
4
Dem Joker hilft dies nichts. Auch der
Überbringer der schlechten Neuigkeiten muss verschwinden, damit das
Nichterinnern wirken kann. Der eigentlich Erleuchtete muss für seine
Wahrheit sterben:
"Wir werden den, der uns zum
Narren gehalten hat, erst los, wenn wir uns auch seines Narren
entledigt haben. Buben! Haut dem Schelm sofort den Kopf ab!"11
Der Jesus-Vergleich ist sicher zu weit
gegriffen, aber fern Verwandtes liest sich immerhin auch im Gleichnis
von den Pächtern im Weinberg: "Als die Winzer den Sohn
sahen, sagten sie zueinander: Das ist der Erbe. Auf, wir wollen ihn
töten, damit wir seinen Besitz erben. Und sie packten ihn, warfen
ihn aus dem Weinberg hinaus und brachten ihn um." (Mt
21,38f)
5
Eine solch mörderische Welt zerstört
sich schließlich selbst – nach des Schöpfers Tod schrumpft die
Insel denn auch in sich zusammen und verschwindet schließlich völlig
im Meer. Ein Hauch von Modernekritik und Kulturpessimismus scheint
mir schon über diese Seiten zu wehen...
Doch in der Rahmenhandlung findet die
Reise des Ich-Erzählers einen glücklichen Abschluss, der in der
Wiedervereinigung seiner Eltern gipfelt. Schlussendlich wird dazu
noch einmal Paulus zitiert:
"...das Größte von allem ist
die Liebe."12
1 J.
Gaarder, Das Kartengeheimnis. München / Wien 1995, 341.
2 Ebd.,
267f.
3 Ebd.,
165. Im selben Kapitel findet sich die in ähnliche Richtung
zielende Aussage des Vaters: "Sich dafür zu interessieren,
wer die Menschen sind und woher die Welt kommt, ist ein so ungeheuer
seltenes Hobby, dass wir es ziemlich allein betreiben."
(164)
4 Ebd.,
268.
5 Ebd.,
326.
6 Ebd.,
269.
7 Zugleich
muss natürlich erinnert werden, dass die Unterschiede eines
einsamen Mannes auf seiner Insel zum allmächtigen Schöpfergott so
evident offenbar sind, dass hier natürlich eine immer unähnlicher
bleibende Analogie vorliegt.
8 A.a.O.,
270.
9 In
"Die fröhliche Wissenschaft" lauten die entscheidenden
Rufe des "tollen Menschen": "Wohin ist Gott?"
rief er, "ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet - ihr
und ich! Wir sind seine Mörder! Aber wie haben wir das gemacht? Wie
vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um
den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde
von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin
bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht
fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen
Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht durch
ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es
nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr
Nacht?"
10 J.
Gaarder, a.a.O., 269f.
11 Ebd.,
270.