Samstag, 20. Dezember 2014

Vierter Advent - Engelskuss statt Pegida

Kurz vor Weihnachten bietet das Evangelium vom heutigen Vierten Advent (Lk 1,26-38) einen Rückblick, wie all das begann, was in den nächsten Tagen gefeiert wird. Der Gruß des Engels an Maria zeigt Gottes Vertrauen in die Aufnahmebereitschaft der Menschen, verkörpert in der jungen Frau aus Nazareth.

1   Poetisch
Aufnahmebereit. Rixdorf, Berlin, 2014.
Wie sich das auch deuten lässt, las ich neulich bei der Beschreibung eines ersten Kusses in Dagmar Leupolds empfehlenswertem Buch "Unter der Hand":
"Wir stehen still, von Lust und Neugier in Beschlag genommen, mit der Erkundung befasst, ganz am Rand meiner Wahrnehmung, während Zungen und Lippen sich ausfragen, treibt der Gedanke quer, dass Verkündigung auf Italienisch sacra conversazione heißt, heiliges Gespräch: Natürlich, der Engel hat Maria geküsst! Ein echtes Lippenbekenntnis."1
Kurz danach heißt es über den Kusspartner: "In seinem Blick spannt sich etwas auf, eine Bejahung, umfassend, mit funkelnden, blinkenden Einsprengseln; eben: ausgesäte Sterne. Noch nie hat ein Blick mich so gegrüßt."2
Die Verkündigung des Engels – ein Kuss Gottes, mit dem er die Menschheit bejaht, wie er es noch nie getan hat. Ein schöner Gedanke.

2   Anthropologisch-Theologisch
Gott vertraut sich dem Ja Mariens an – diese erschrickt zwar und überlegt (v29), fragt auch nach, wie das geschehen solle (v34), ist aber bereit und vertraut ihrerseits darauf, dass Gott diese unmögliche Sache schon lenken werde (v37).
Entscheidend ist dabei meines Erachtens nach nicht die biologische Frage nach der Jungfräulichkeit, sondern die viel tiefer gehende Einsicht, dass Gott sich begrenzt in die Aufnahmefähigkeit eines Menschen hinein. Welche Liebe, welches Vertrauen, welcher Mut und welche Leidensbereitschaft sind nötig, wenn man sich klar macht, dass Gott sich schon hier in die Hand seiner Geschöpfe gibt. Die Auswanderung Gottes, die sich in der Verkündigung abspielt, fusst auf beidseitigem Vertrauen.

3   Politisch
Christlichkeit im Sinne Gottes ist also nicht ein paranoides Gefühl der Überfremdung und der postkommunistischen Angst vor politischer Täuschung und Irreführung, wie es sich in Kundgebungen wie denen von Pegida manifestiert, sondern genau andersherum das Anvertrauen, welches das Fremde und Auswärtige willkommen heißt. 

Fenster zu. Westend, Berlin, 2014.
Wer darum abendländische Werte verteidigen will, sollte auf die versinkenden Boote im Mittelmeer sehen, auf die völlig unzureichende Unterbringung und Unterstützung von Flüchtlingen in den Staaten Europas und auch in Deutschland, auf die Arbeitsverbote, auf die Abschiebungen, auf die Erniedrigungen durch Sicherheitspersonal und die Schikanen durch unübersetzte Bürokratie – ob also statt falscher "Lippenbekenntnisse" wirklich Menschlichkeit waltet (die sich noch nicht einmal abendländisch-christlich oder sonstwie nennen muss).

Zurückgewandt auf das Evangelium: Die politische Aufnahmefähigkeit Europas und Deutschland ist größer als Mariens Möglichkeiten gegenüber ihrem Schöpfer – und auch unser Vertrauen in diese Möglichkeiten kann wachsen, wenn politischer Wille da ist und die Gegebenheiten verantwortlich bereitet werden.
Küsse sind dann vielleicht als zweiter Schritt möglich...


1   D. Leupold, Unter der Hand. Salzburg / Wien 2013, 184.
2
   Ebd., 193.