Sonntag, 1. Mai 2016

"Einen Tempel sah ich nicht ..." – Revolution der Unmittelbarkeit

Die Vertreter der revolutionären Utopie der einstmaligen Arbeiterbewegung werden sich zu den bekannten klamaukartigen Tumulten und Gewaltorgien auch in diesem Jahr wieder in Berlin und an anderen Orten zusammenfinden.
Da das Christentum eine Selbstentfremdung durch was auch immer ebenfalls ablehnt und vielmehr geschwisterliche Gerechtigkeit und umfassende Befreiung sucht, ließen sich auf inhaltlicher Ebene durchaus Berührungspunkte finden – mit den bewährten Abgrenzungen gegenüber Hass als Grundlage des Diskurses und brachialer Gewalt als Mittel seiner Durchsetzung.
Und mit einem anderen Ziel.

Einwohnungsangang.
Invalidenstraße und Kanal, Berlin-Mitte, 2016.
Denn das eigentlich Revolutionäre des Christentums ist sein Versprechen einer Gottesnähe ohne Vermittlung und im Lichte Gottes. Mit einem poetischen Bild: ohne das (eucharistische) Brot – aber im (ewigen) Glanz. 

Die Lesungen des Sonntags zeigen dies eindrücklich:
Im Evangelium (Joh 14,23-29) spricht Jesus davon, dass Gott durch die Liebe zu einem Menschen kommen "und bei ihm wohnen" (v23) werde. Diese "Einwohnung" wird ein Tun des Heiligen Geistes sein, der als göttliches Erinnerungsvermögen Jesu Worte – und das meint auch seine Haltung und innere Lebensausrichtung – in den Herzen der Gläubigen präsent halten und neu aktivieren wird.
Durch diese spirituelle "Verinnerlichung" Gottes ins eigene Leben wird klar, was der Seher Johannes meint, wenn er von der zukünftigen "heiligen Stadt" Jerusalem, also dem Ort der ultimativen Gottesbegegnung sagt:
"Einen Tempel sah ich nicht in der Stadt. Denn der Herr, ihr Gott, der Herrscher über die ganze Schöpfung, ist ihr Tempel". (Off 21,22)
Es braucht in dieser Utopie keine vermittelnde Instanz zwischen Gott und Mensch mehr. Keinen Tempel, keinen Ort, zu dem einer gehen müsste, damit er mit dem Höchsten in Kontakt kommen kann. Sondern der Herrscher über alles schafft zugleich auch absolute Nähe zu allem, wie es bisher nur ein Tempel mit Versammlung, Gebet, Lesung und Opfer vermochte.

Das johanneische Denken spiegelt immer wieder etwas von mehreren Seiten, wie es sich auch in den langen Texten der Osterzeit immer wieder zeigt. Heute nun wird die revolutionäre Unbrauchbarkeit einer Vermittlungsinstitution von zwei Seiten erhellt – zum einen wird Gott in den Gläubigen Wohnung nehmen, ohne dass es eine Instanz dazwischen bräuchte, zum anderen wird auch alles in ihm sein, wenn die Vollendung da ist.

Und jetzt kommts – das alles ist gar nicht mehr nur Utopie! Es hat schon begonnen, wie uns ein Blick in das (ebenfalls von Johannes erzählte) Gespräch mit der Samariterin am Jakobsbrunnen zeigt: Auch dort geht es um die Frage, wo die verschiedenenen Denominationen zu Gott beten werden und Jesus sagt zunächst: "Glaube mir, Frau, die Stunde kommt, zu der ihr weder auf diesem Berg noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet." (Joh 4,21)
Nur um gleich hinterher zu schieben: "die Stunde kommt und sie ist schon da, zu der die wahren Beter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit" (Joh 4,23)

Heutiger Marienwallfahrtsort. Sanktuarium Pijarzy, Warschau, 2015.
"Sie ist schon da" – wir leben heute schon im Heiligen Geist, wollte uns der Evangelist damit sagen, wir brauchen schon jetzt keine Instanzen mehr zwischen Gott und Welt. Wir sind, wie die Kirchenreformer und Mystiker des 16. Jahrhunderts, Luther oder auch Ignatius oder Johannes vom Kreuz immer wieder betonten, Gott schon ganz und gar unmittelbar und können mit ihm interagieren.
Vielleicht täte es der Kirche (bei aller unbenommenen Notwendigkeit ihres sakramentalen und verkündenden Handelns) manchmal gut, demütig an einem Exerzitienbegleiter im Sinne des Ignatius Maß zu nehmen und "wie eine Waage unmittelbar den Schöpfer mit dem Geschöpf wirken [zu] lassen und das Geschöpf mit seinem Schöpfer und Herrn."1

Vermittelnde Hilfestellungen, wie das Buch, aus dem dieser Satz entnommen ist, erfreuen sich bis zur Vollendung im himmlischen Jerusalem natürlich trotzdem noch eines gewissen Nutzens – doch die fromme Gegenwarts-Utopie der Christenheit von Gottes Unmittelbarkeit wächst nur, wenn sie auch wachsen kann.


1   Ignatius v. Loyola, Geistliche Übungen und erläuternde Texte. Leipzig 1978, No. 15.