Neulich habe ich eine grandiose Kurzanalyse unserer Gesellschaft am Beispiel des Wissenschaftsbetriebes gelesen. Der Autor ist der Philosoph Michael Hampe von der ETH Zürich und er macht sich in der ZEIT (vom 04.05.) Gedanken über die Amoralität von Wissenschaftlern, deren genuine Aufgabe des "Wissensschaffens" er im Klima westlicher Konkurrenzgesellschaften nicht mehr ohne weiteres für möglich hält. Denn durch die Verallgemeinerung und Vulgarisierung der ökonomischen These von Adam Smith, wonach "das Streben nach partikularem Eigennutz und die sich daraus ergebende Konkurrenz auf Märkten den allgemeinen Wohlstand fördere", sieht er "einen narzisstischen Persönlichkeitstyp" mit einem "starken Willen zur Durchsetzung eigener Interessen" begünstigt.
Das wiederum behindere insbesondere wissenschaftliche Arbeit, weil für diese einige demokratische "Kernkompetenzen" nötig seien, die er anschließend benennt.
Organische Architektur. POLIN, Warschau, 2015. |
Als ich sie las, habe ich nicht schlecht gestaunt. Denn dieselben sozialen Kompetenzen halte ich nicht nur für ein demokratisches Gemeinwesen und für Wissenschaft, sondern auch für religiöse (oder jedenfalls christliche) Lebenspraxis für unabdingbar.
Darum seien sie hier ausführlich zitiert:
"Erstens: die kognitive und emotionale Fähigkeit von Individuen, sich in die Perspektive anderer hineinzuversetzen. Denn nur Perspektivenwechsel erlaubt es, mit anderen eine norm- und zielsetzende Gemeinschaft zu bilden (Empathie). Zweitens: die Anerkennung fremder Lebensentwürfe, die nicht den eigenen Vorstellungen folgen. Denn nur aufgrund solcher Anerkennung können aus einander fremden Lebensentwürfen neue gemeinschaftliche Projekte entstehen (Toleranz). Drittens die Kompetenz, wirtschaftlich und auf andere Weise Kooperationen auch mit Menschen einzugehen, die andere Lebensentwürfe als man selbst verfolgen (Vertrauen). Und schließlich viertens der Wille und die Kreativität, gemeinschaftliche Ziele zu entwickeln, die nicht nur die kurzfristigen Interessen der jeweils agierenden Einzelnen betreffen (langfristige, mehrere Generationen betreffende Teleologien)."
Meiner Meinung nach sind diese sozialen Fähigkeiten in einer Zeit kirchlicher und politischer Polarisierung nötiger denn je.
Über die eigenen Bedürfnisse, so legitim sie auch sein mögen, über die eigene Meinung, so richtig sie für den Einzelnen auch sein mag, hinauszuschauen, sollte eine grundlegende Kompetenz gerade auch derer sein, die an einen Gott der Liebe und Hingabe glauben.
Wie sonst hätten die ersten Christen auf andere zugehen, mit ihnen Kontakt aufnehmen und sie zum Glauben an den einen Gott, der Heil und Leben verheißt, einladen können, wenn nicht mit diesen Fähigkeiten? Wie sonst ließe sich ehrliches christliches Streben und eine gottgefällige Lebensweise auch in anderen Konfessionen und sogar Religionen finden, wie es das kirchliche Lehramt spätestens seit dem letzten Konzil vorsieht?
Und auch die Kirche selbst besteht nun einmal aus Menschen mit den unterschiedlichsten Lebensentwürfen, die in ihrer Ernsthaftigkeit oder Lauheit, in ihrem Eifer oder ihrer Gleichgültigkeit nur darin überein kommen, dass sie einmal getauft wurden - wie auch immer sie diese Gabe jetzt mit Leben und Liebe füllen.
Lampen, Türen, Notausgang. Kunsthalle Hamburg, 2015. |
Gerade darum sind die genannten Kernkompetenzen eines demokratischen Gemeinwesens auch Kernkompetenzen der Kirche - und als solches nicht nur Aufgabe, sondern auch Gabe des Geistes. Nachdem lange Zeit eher bürgerliche Tugenden wie Ehrlichkeit und Anständigkeit, Treue und Rechtschaffenheit als gute christliche Haltungen galten, ist es nun vielleicht an der Zeit, ein einfühlsames und offenes, am Anderen interessiertes und vertrauensvolles Miteinander, das über den eigenen Tellerrand hinausschaut, ebenso zu fördern und als maßstäblich zu präsentieren.
Denn weiter gedacht und spirituell gesprochen, stellten und stellen sich Christen immer auch die Frage vom jeweiligen Gegenüber her: was jene Person im Moment am meisten braucht, damit Gott ihr von gerade dieser Seite ihrer Sehnsucht nahe kommen kann.
Von dieser Haltung leben sowohl Seelsorge als auch Mission.
Von dieser Haltung leben sowohl Seelsorge als auch Mission.
Und selbst theo-logisch, also von Gott selbst her gesprochen, gilt genauso: es ist sein großes Vertrauen in schwache Menschen, die über die Jahrhunderte seine Kirche bilden sollen und denen er sich anvertraut trotz all ihrem Versagen. Deshalb begabt er sie Generation um Generation mit sich selbst, mit seinem Geist, damit sie mit seinem Vorschlag eines neuen Lebens für sie zurecht kommen, damit sie mit der Unterschiedlichkeit in den eigenen Reihen zurecht kommen und genauso mit der je individuellen Enge und Begrenztheit.
In besagtem Artikel führt Hampe schließlich für "das Projekt aufgeklärter Wahrheitssuche" aus, was auch für Religion und Kirche zutrifft: Es ist als "Partizipation an der gemeinschaftlichen Suche nach dem richtigen Leben sinnstiftend." Und nicht zuletzt: "Wer sich an diesen Projekten beteiligt, hat an etwas Anteil, was in Bedeutung und Dauer die eigene Existenz übertrifft."
So folgert Hampe, dass in wissenschaftlicher Arbeit und in sozialen Demokratien "Funktionen der Erlösungsreligionen" übernommen werden.
Tatsächlich will christliche Religion als Erlösungsmittlerin selber weiterhin genau das sein - Öffnung des Herzens und Horizonterweiterung über die eigene begrenzte Lebenswirklichkeit hinaus in den Welt-Raum Gottes hinein.
Komm, Heiliger Geist, dass unser Leben von einem solchen Pfingsten immer neu aufgeschlossen werde, zum Sprechen und Verstehen der Sprachen um uns herum.
Weg ins Weite zwischen Uniformen. Wald im Norden Köpenicks, 2016. |