Samstag, 13. Juni 2020

Bloß nicht zu denen! Über Jesu Verbot, zu Heiden und Samaritern zu gehen

Es ist eine Aussage, die mir regelmäßig aufstößt – Jesu Verbot, zu den Nichtjuden zu gehen. "Geht nicht den Weg zu den Heiden und betretet keine Stadt der Samaríter" (Mt 10,5), sagt er im Evangelium des Sonntags (Mt 9,36-10,8) zu seinen Aposteln. Nur den "verlorenen Schafen des Hauses Israel" (v6) sollen sie die Frohe Botschaft von Gottes heilender Nähe verkünden.
Das schockiert mich und passt nicht recht zu meiner sonstigen Auslegung des Christentums.
Bedeutet das den Ausschluss aller anderen Gruppen von der Gottesherrschaft? Will Gott nicht bei ihnen sein? Kurz: Gibt es Menschen, die bei Gott nicht gewünscht sind?

Tief im Berliner Osten.
Frankfurter Tor, 2014.
Darüber hinaus aber besteht ein problematisches Verhältnis zu den weiteren, universalistischen Aussagen des Neuen Testaments, wie beispielsweise am Ende des gleichen Evangeliums (Mt 28,19f), wo die Jünger vom Auferstandenen zu allen Völkern geschickt werden (vgl. auch 1Tim 2,4).
Nur dadurch, dass die Jünger diesen letzteren Auftrag in die Tat umsetzten, blieb der Sonderweg um Jesus keine kleine jüdische Sekte unter vielen anderen, sondern wurde eine große weltumspannende Religion.

Entweder also gab es zwei verschiedene Phasen von Jesu (und der Jünger) Wirken oder die Zielgruppe vor Ostern unterscheidet sich eminent von der Zielgruppe nach Ostern. Außerdem könnte man entweder eine spätere "Ausweitung" des Missionsbefehls oder aber eine "Ablösung" der einen Gruppe (Israel) durch die andere Gruppe (die Völker) annehmen.1
Doch das ist für mich hier nicht entscheidend – die Praxis der frühen Christen um Paulus spricht ihre eigene Sprache der Fakten: das Christentum ist ein Angebot für alle geworden.

Was aber kann uns heute der exklusive Befehl Jesu sagen, zu bestimmten Gruppen zu gehen und zu anderen gerade nicht? Bei allen Theorien zur möglichen inneren Entwicklung Jesu, bei allen Kontextualisierungen und bei aller historischen Einordnung lässt sich ja immerhin fragen, ob sich daraus auch für unsere Zeit etwas gewinnen lässt.

Der Zugang, der mir am nachvollziehbarsten erscheint, ist ein pragmatischer.
Bei den Nichtjuden hatte die Botschaft eines jüdischen Messias für das jüdische Volk naturgemäß weniger Chancen, ein positives Echo zu finden. Schon der Eingottglaube an sich war für das polytheistische Umfeld eine Herausforderung – bisweilen eine positive, bisweilen eine, die Abwehr produzierte.
Für Jesus auf der anderen Seite war seine Frohbotschaft von der herandrängenden Gottesherrschaft so dringend, dass er sie rasch und mit bestmöglicher Wirkung unter die Leute bringen wollte. Ehe dann aber erst der ganze Hintergrund der Thora für Nichtjuden dargelegt und einladend verständlich gemacht worden wäre, hätte man bei den anderen Völkern und Samaritern viel Energie aufwenden müssen – diese außen vor zu lassen war dann allein aus Effizienzgründen sinnvoll.

Abgesperrter Baum.
Blossin, 2020.
Tatsächlich stelle ich mir gelegentlich die Frage, ob die christliche Botschaft in den urbanen Milieus überhaupt eine Chance haben kann. Wo die persönliche Leidenschaft in erster Linie darauf geht, sich selbst zu entdecken, die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen oder das materielle Auskommen zu sichern, bleibt für ein transzendentes Welterklärungsmodell wenig Raum. Doch auch weniger hedonistische Lebensperspektiven sind schwer erreichbar – religiöse Riten, Schriften und Gemeinschaften scheinen für die Welt- und Lebensdeutung zunehmend einfach unerheblich. Dieser Relevanzverlust und eine Vielzahl an alternativen Sinnangeboten machen es der christlichen Botschaft schwer, sich Gehör und Verständnis zu verschaffen.

Wenn ich Jesu Aufruf also dahingehend interpretiere, dass ich dorthin gesandt bin, wo es sich auch lohnt, wo es überhaupt realistisch erscheint, den barmherzigen Gott zu verkünden – dann muss ich mich natürlich fragen, welche Chance ich an bestimmten Orten in unserer Gesellschaft überhaupt habe.
Dann steht auch nicht mehr die Frage im Vordergrund, welche Art von "Mission" die Welt heute braucht, sondern eher, welche Zielgruppe ich mit meiner Botschaft überhaupt noch erreichen kann. Möglicherweise gibt es auch in unserer Gesellschaft Menschen ("Heiden"), die ich besser meide, weil ich meine Kraft dort nur verschwende. Habe ich dort eine Verantwortung zu verkündigen?

Aber natürlich ist das nicht das letzte Wort – zum einen verheißt Jesus seine Gegenwart selbst als Unterstützung "bis zum Ende der Welt" (Mt 28,20). Zum anderen gibt es möglicherweise "Gesandte" mit anderem Profil und anderen Talenten, die wiederum genau dorthin gesandt sind, wo ich nicht weiterkomme. Und schließlich bin ich überzeugt, dass auch eine Gesellschaft, die sich weitgehend selbst genügt, von den überzeugend gelebten Werten des Evangeliums (um)geprägt werden kann.

Ich glaube also, dass alle Menschen bei Gott gewünscht sind – aber manche für uns menschliche Gesandte Gottes nur sehr schwer zu erreichen sind. 


1   Vgl. U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 8-17) I/2. Zürich / Braunschweig, Neukirchen-Vluyn 1990, 91ff.

1 Kommentar:

  1. Auch bei den Samaritanern ist die Torah (5 Bücher Mose) heilige Schrift.

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