Donnerstag, 11. Juni 2020

Fronleichnam und die Frage nach dem "überwesentlichen" Brot für morgen

Es ist nicht wichtig, wie dieses Brot schmeckt. Es ist nicht wichtig, wie es aussieht. Es ist noch nicht einmal besonders wichtig, aus welchen Körnern es zubereitet wurde.
Wichtig ist in erster Linie das, was es zuinnerst ausmacht, also sein Wesen, seine tiefste Bedeutung. Noch konkreter schreibt Eckhard Nordhofen: "Sein Wesen ist seine Geschichte. Die ist unsichtbar, man kann sie aber erzählen."1

1.
In seinem viel diskutierten Buch "Corpora. Die anarchische Kraft des Monotheismus", dem ich hier auch schon einen begeisterten Beitrag gewidmet habe, beschäftigt sich Nordhofen mit den Medien, durch die Gott mit den Menschen in Kontakt tritt. Waren für die Israeliten das Offenbaren des göttlichen Namens und die Heilige Schrift die entscheidenden Kontaktstellen Gottes mit der Welt, so steht für die Christen mit dem Johannesprolog fest: "Gott, das ewige Wort, wird nicht Schrift, sondern Fleisch."2 (Auch Jesus selbst hat in seiner Auseinandersetzung mit besonders schrifttreuen Juden regelmäßig die Schrift relativiert und das menschliche Herz ins Zentrum gestellt.)

Das neue Gottesmedium ist ein Mensch. Doch Jesus ist nicht nur als Mensch geboren, sondern auch als Mensch gestorben – wie aber kann der in Jesus menschgewordene Gott dann seine Gegenwart in der Welt retten?

Die liturgische und die literarische Tradition sind diesbezüglich recht eindeutig: "Jesus, der für die Evangelisten in Bethlehem, dem 'Haus des Brotes' geboren war, identifizierte sich im großen Gedächtnismahl am Vorabend seines Todes mit dem großen Sinnträger seines Volkes, dem ungesäuerten Brot des Exodus, der Befreiung aus dem Sklavenhaus."3
Auf diese Weise verknüpft Jesus das Wesen des Brotes mit der Geschichte des Volkes Israel und mit seinem eigenen Schicksal. Das Brot wird zum Medium des menschgewordenen Gottes. Das ist die Geschichte dieses Brotes, um die es geht.
Durch Jesu Identifikationshandeln wird das eucharistische Brot die Materie seiner Hingabe.

2.
Doch Nordhofen weist noch auf eine viel interessantere Ebene hin.
Er verbindet die eucharistische Brotfrage mit der Brotbitte des Vaterunsers. Beim Blick in den Urtext beschäftigt ihn insbesondere das ungewöhnliche, weil sonst nirgendwo in der antiken griechischsprachigen Welt gebräuchliche Adjektiv "epioúsion", das näher beschreibt, was für ein Brot die Jünger mit ihrem Gebet erbitten (vgl. Mt 6,11; Lk 11,3).
Mit "täglich" kann dieses (wie gesagt sonst unbekannte) Wort eigentlich nicht übersetzt werden, aber dazu gleich noch ausführlicher.

Nordhofen referiert ausführlich die lateinische Übersetzung des Hieronymus und seinen Kommentar. Auch der Theologe aus der alten Kirche wählt nämlich einen Neologismus und übersetzt "supersubstantialem".4
Das ergibt sich aus den beiden Teilen, aus denen das griechische Wort zusammengesetzt ist; beides kann im Deutschen mit "überwesentlich" wiedergegeben werden. Was das bedeutet, erläutert Nordhofen zum einen an der Brotrede Jesu bei Johannes, aus der auch das Evangelium des heutigen Festes stammt: Im Gegensatz zum Wüstenbrot, das die Israeliten in Form des Manna bekamen, um ihren täglichen Hunger zu stillen, sieht Jesus sich selbst als "das Brot, das vom Himmel herabgekommen ist" (Joh 6,41; vgl. v49f). Er ist also nicht das Brot, das den Bauch satt macht, sondern ein (wie bei Jesus so oft) im übertragenen Sinn verstandenes, himmlisches Brot.

Warum nun "epioúsion" trotzdem mit "tägliches" übersetzt worden ist, erklärt der Autor nach Marc Philonenko mit der eschatologischen Ausdeutung der Brotbitte durch Bezugnahme auf das Manna-Wunder in der Wüste (vgl. Ex 16), das sich täglich ereignete, und dessen endzeitliche Auslegung. Das Brot wird so (unter Herbeiziehung von Off 2,17) das "Brot für morgen", das die Menschen als Gottes Gabe erhalten. "Falsch wird diese Übersetzung erst, wenn dieser Rezeptionsrahmen wegfällt und der Resonanzraum mit seinen eschatologischen, man könnte auch freier formulieren, 'überwesentlichen' Manna-Bezügen nicht mehr existiert."5
Auch der Auftrag Jesu, dies zu seinem Gedächtnis zu tun, weist schließlich in die Zukunft.
Auf diese Weise verbinden sich zwei die beiden Deutungen: „Was überwesentlich ist, ist auch und gerade das, was wir morgen und in Zukunft brauchen.“6
Das Vaterunser bietet damit einen anderen Weg, der aber in die gleiche Richtung führt wie das eucharistische Brot. Zur dort versprochenen Gottesnähe gehört hier die Frage nach dem Gotteswillen.

Denn zur Probe aufs Exempel passt diese Deutung auch in den Kontext des Vaterunsers. Nordhofen konstatiert, dass die Brotbitte eine Art Antwort auf die vorhergehende Bitte "Dein Wille geschehe" (Mt 6,10) darstellt.
Es ergibt einen "anschlussfähigen Sinn", wenn es eben nicht ausreicht, in eine heilige Schrift zu schauen, um den Willen Gottes zu erfahren und geschehen zu lassen, sondern stattdessen wie oben beschrieben interpretiert wird: "Jeden Tag himmlisches Brot essen, jeden Tag maximale Gottesnähe herstellen, das ist die Antwort Jesu auf die Frage aller Fragen, die Frage nach dem Willen Gottes... Der Wille Gottes muss inkorporiert werden – wie eine Speise, wie Brot.
Und schlagartig wird klar, dass wir hier vor der großen Medienalternative stehen, die Jesus, der bei der Schriftkritik nicht stehen bleibt, nun anbietet: Wer jeden Tag das überwesentliche, himmlische Brot für morgen empfängt und sich einverleibt, stellt jeden Tag neu die Frage nach dem Willen Gottes und er muss sie aus der Gottesnähe, die das Brot herstellt, jeden Tag neu beantworten."7

Dass wir Gott diese Frage nach seinem Willen für uns täglich stellen und für Gott durchlässige Brot-Menschen werden können, das wünsche ich uns allen an diesem Fest.


1   E. Nordhofen, Corpora. Die anarchische Kraft des Monotheismus. 2., durchgesehene und ergänzte Auflage, Freiburg i.Br. 2018, 245.
2
   E. Nordhofen, Gott ist anders. Plädoyer für den Zölibat und seine Alternativen. In: Herder Korrespondenz 2/2020, 27-39, hier: 37.
3
   Ebd.
4
   Vgl. E. Nordhofen, Corpora, a.a.O., 244f.
5
   Ebd., 249. 
6   Ebd., 251. 
7   Ebs., 253.

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