Montag, 9. November 2020

Vox populi – vox Dei? Gedanke am 9. November

Mit der Stimme des Volkes ist es so eine Sache.


Beim Gedenken an den 9. November 1989 erinnern wir uns gern an die Menschenmassen, die in den Wochen zuvor an Massenkundgebungen auf dem Alexanderplatz und in der ganzen DDR teilgenommen haben sowie an die freudentaumelnden Ostberliner, die über die offenen Grenzübergänge liefen. Das friedlich revoltierende Volk hatte gesiegt.


Doch der andere 9. November, der von 1938, erinnert uns daran, wie aufgepeitschte Massen in einer angeblich spontanen, dabei von den Nationalsozialisten gesteuerten und organisierten gewalttätigen Aktion jüdische Geschäfte und Synagogen zerstörten. Das deutsche Volk war anscheinend scharf darauf, es seinen jüdischen Mitbürgern mal so richtig zu zeigen.

Schiefe Stoppeln in Massen.
Lindenberg, 2020.
Bei der US-Wahl 2020 zeigten sich viele Kommentatoren erleichtert, dass die Mehrheit des Wahlvolkes sich für Joe Biden entschieden hat. Vernunft und Maß und der Wunsch nach Normalität seien endlich wieder zurückgekehrt. Dabei hält fast die Hälfte der Wählenden trotz aller Lügen und Eskapaden weiterhin an Donald Trump fest. Einig ist sich das amerikanische Volk also in keinster Weise.


Nun scheint die Demokratie doch die Staatsform zu sein, in der der Volkeswille zentral ist. Und das zu recht, wenn dieser Wille in einem geeigneten Verfahren (wie Wahlen) und unter geeigneten Sicherungsmechanismen (wie Minderheitenrechten) auch festgestellt werden kann.

Wird aber der Wille oder die Stimme des Volkes glorifiziert und sakralisiert, gar mit göttlichem Willen oder Schicksal gleichgesetzt, dann wird es kritisch. Gott in diese Fragen hineinzuziehen, erscheint mir zudem hochgradig manipulativ.

Der Gelehrte Alkuin schrieb (glaubt man der Quelle in Wikipedia) um 798 an Karl den Großen:

"Nec audiendi qui solent dicere, vox populi, vox dei, quum tumultuositas vulgi semper insaniae proxima sit" übersetzt: „Auf diejenigen muss man nicht hören, die zu sagen pflegen, ‚Volkes Stimme, Gottes Stimme‘, da die Lärmsucht des Pöbels immer dem Wahnsinn sehr nahe kommt“.

Das mag eine elitär klingende Meinung sein, die überspitzt formuliert, aber die Verführbarkeit der Massen kommt darin sehr klar zum Ausdruck.


Um der Versuchung einer kitschigen Vergoldung des Volkes zu entgehen, braucht es einen (selbst)kritischen, nüchternen und verantwortungsbewussten Blick, der sich nicht scheut, auch die dunklen Flecken wahrzunehmen – und es braucht Aufmerksamkeit für die Vergangenheit, die oft genug gezeigt hat, wie gefährlich des Volkes Stimme sein kann.

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