Mit der Stimme des Volkes ist es so
eine Sache.
Beim Gedenken an den 9. November 1989
erinnern wir uns gern an die Menschenmassen, die in den Wochen zuvor
an Massenkundgebungen auf dem Alexanderplatz und in der ganzen DDR
teilgenommen haben sowie an die freudentaumelnden Ostberliner, die
über die offenen Grenzübergänge liefen. Das friedlich
revoltierende Volk hatte gesiegt.
Doch der andere 9. November, der von
1938, erinnert uns daran, wie aufgepeitschte Massen in einer
angeblich spontanen, dabei von den Nationalsozialisten gesteuerten
und organisierten gewalttätigen Aktion jüdische Geschäfte und
Synagogen zerstörten. Das deutsche Volk war anscheinend scharf
darauf, es seinen jüdischen Mitbürgern mal so richtig zu zeigen.
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Schiefe Stoppeln in Massen. Lindenberg, 2020.
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Bei der US-Wahl 2020 zeigten sich viele
Kommentatoren erleichtert, dass die Mehrheit des Wahlvolkes sich für
Joe Biden entschieden hat. Vernunft und Maß und der Wunsch nach
Normalität seien endlich wieder zurückgekehrt. Dabei hält fast die
Hälfte der Wählenden trotz aller Lügen und Eskapaden weiterhin an
Donald Trump fest. Einig ist sich das amerikanische Volk also in
keinster Weise.
Nun scheint die Demokratie doch die
Staatsform zu sein, in der der Volkeswille zentral ist. Und das zu
recht, wenn dieser Wille in einem geeigneten Verfahren (wie Wahlen)
und unter geeigneten Sicherungsmechanismen (wie Minderheitenrechten)
auch festgestellt werden kann.
Wird aber der Wille oder die Stimme des
Volkes glorifiziert und sakralisiert, gar mit göttlichem Willen oder
Schicksal gleichgesetzt, dann wird es kritisch. Gott in diese Fragen
hineinzuziehen, erscheint mir zudem hochgradig manipulativ.
Der Gelehrte Alkuin schrieb (glaubt man
der Quelle in Wikipedia)
um 798 an Karl den Großen:
"Nec audiendi qui solent
dicere, vox populi, vox dei, quum tumultuositas vulgi semper insaniae
proxima sit" übersetzt:
„Auf diejenigen muss man nicht hören, die zu sagen pflegen,
‚Volkes Stimme, Gottes Stimme‘, da die Lärmsucht des Pöbels
immer dem Wahnsinn sehr nahe kommt“.
Das mag eine elitär klingende Meinung
sein, die überspitzt formuliert, aber die Verführbarkeit der Massen
kommt darin sehr klar zum Ausdruck.
Um der Versuchung einer kitschigen
Vergoldung des Volkes zu entgehen, braucht es einen
(selbst)kritischen, nüchternen und verantwortungsbewussten Blick, der sich nicht scheut, auch die
dunklen Flecken wahrzunehmen – und es braucht Aufmerksamkeit für
die Vergangenheit, die oft genug gezeigt hat, wie gefährlich des
Volkes Stimme sein kann.
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