Sonntag, 1. November 2020

Allerheiligen: Halo-Effekt und echte Heiligkeit

 Theoretisch weiß jeder, dass nicht alles Gold ist, was glänzt. Trotzdem fallen wir immer wieder auf Blender herein.

In der katholischen Kirche ist das in den letzten Jahren auch bei einigen Gründern Geistlicher Gemeinschaften und Orden der Fall gewesen: der lang protegierte Gründer der Legionäre Christi Marcial Maciel mit seinen diversen Liebschaften und Kindern oder ganz aktuell der des vielfachen Missbrauchs beschuldigte Gründer der Schönstattbewegung Josef Kentenich sind besonders populäre Beispiele dafür, wie Charisma und religiöse Schönrederei den Blick für die dunklen Stellen getrübt haben.

Die Sozialpsychologie bezeichnet dieses Phänomen als "Heiligenschein" oder "Halo-Effekt":

Helle und dunkle Flecken.
Christian-Schreiber-Haus, Alt-Buchhorst, 2019.
Fällt eine einzige Eigenschaft eines Menschen oder einer Firma extrem positiv aus, dann ist man geneigt, diesen einen außerordentlichen Eindruck auf alles andere zu übertragen und sich der Kritikfähigkeit zu berauben. Der Heiligenschein ist ein tückisches Phänomen, das zur spontanen Erblindung der Beobachter führen kann. So wird der Heiligenschein zum Schutzschirm der Scheinheiligen.1

In den Pontifikaten von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. war strenge Lehramtstreue als herausragende Eigenschaft von Gemeinschaften oder Personen so wichtig, dass autoritäre Strukturen, missbräuchlicher Umgang und viele andere Aspekte daneben keine Rolle mehr spielten. Regelbefolgung war die neue Heiligkeit. Glänzte diese Seite der Gründer oder ihrer Gemeinschaften nur hell genug, dann wurde alles andere nebensächlich.

Das Evangelium an Allerheiligen (Mt 5,1-12) weist auf eine andere inhaltliche Rangfolge hin. In den Seligpreisungen aus der Bergredigt Jesu sind Friedfertigkeit, Gerechtigkeitsdurst, Barmherzigkeit, Armut etc. die entscheidenden Merkmale.

Auch diese werden von frommen Kirchenleuten oft im Munde geführt, vielleicht bisweilen sogar gelebt. Aber auch hier gilt meiner Meinung nach: die Fixierung auf ein Merkmal, das auf Kosten anderer strahlt, kann allzu leicht in die Irre führen. Selbst das Gebet kann (um nur ein Beispiel zu nennen) vom Rest einer übergriffigen Lebensweise innerlich abgespalten werden – so sehr sich jemand dann auch in Gottes Nähe fühlt, so problematisch kann sein Verhalten auf anderen Ebenen sein.

Mit anderen Worten, das Leben mit Gott betrifft auch die Sexualität mit, auch die Führungsfähigkeit, die Verantwortung für die Umwelt und alles andere. Natürlich kann niemand auf allen Ebenen die gleichen Stärken und Talente haben und die Heiligen unterscheiden sich bisweilen sehr extrem voneinander. Aber wenn eine Eigenschaft über alle gestellt und glorifiziert wird, werde ich misstrauisch.

Echte Heiligkeit zeichnet sich dagegen dadurch aus, dass nicht nur eine Eigenschaft bestimmend ist (und sei sie noch so fromm), sondern dass die einzelnen Merkmale auf das ganze Leben ausstrahlen.


1   Ingo Malcher, Mark Schieritz, Stefan Willeke in: Die Zeit Nr. 41 vom 01.10.2020.

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