Donnerstag, 11. März 2021

Poetische Fastenspeise 3 – "Ohne" von Tadeusz Różewicz

Nun wäre es Zeit für eine weitere Fastenspeise – dachte ich und suchte so vor mich hin. Nachdem schon der Frauentag in meinem Bücherschrank keine lyrische Fundgrube war und ich noch viele andere Dinge um die Ohren habe, war ich zunächst nicht sehr optimistisch.

Aber da!

Im neu erworbenen Auswahlband von Tadeusz Różewicz mit dem Titel "Zweite ernste Verwarnung"1 wurde ich fast erschlagen von der existenziellen Kraft des folgenden Gedichts.

Es spiegelt in Anlehnung an viele biblische Worte die Last und die Pein, die Größe und Bedeutung, aber auch die Belanglosigkeit und die Nebensächlichkeit der Gottesfrage für uns heute Lebende. Für mich ist es auch ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Alltagsatheismus, der sogar Menschen erfassen kann, die sich als gläubig ansehen.

Mich hat dieses Gedicht jedenfalls gerade so erfasst, dass ich es euch einfach zur Meditation überlasse und im Anschluss nichts mehr kommentiere oder interpretiere.


Ohne

Was bleibt...?!
Wartenberg, Berlin, 2020.


das größte ereignis
im menschenleben
sind die geburt und der tod
Gottes

vater Vater unser
warum hast Du
wie ein böser vater
nachts

ohne ein zeichen
ohne ein wort – spurlos

warum hast Du mich verlassen
warum habe ich Dich verlassen

ein leben ohne gott ist möglich
ein leben ohne gott ist unmöglich

nährte ich mich doch schon als kind
von Dir
aß Deinen leib
trank Dein blut

vielleicht verließest Du mich
als ich versuchte die arme zu öffnen
das leben zu umarmen

leichtfertig
breitete ich die arme aus
und gab Dich frei

vielleicht aber bist Du geflüchtet
weil Du mein lachen
nicht ertrugst

Du lachtest ja nicht
oder vielleicht straftest Du mich
das kleine beschränkte wesen
wegen meines starrsinns
wegen meines hochmuts
dafür
weil ich zu erschaffen versuchte
einen neuen menschen
eine neue sprache

Du verließest mich ohne flügelrauschen
ohne blitz und donner
wie eine graue feldmaus
wie wasser im sand versickert
und ich vielbeschäftigt und zerstreut
habe Deine flucht
Dein fortsein aus meinem leben
gar nicht wahrgenommen

ein leben ohne gott ist möglich
ein leben ohne gott ist unmöglich


(März 1988 - März 1989)

 

Haltepunkte.
Hafen von Zinnowitz, 2020.

1   T. Różewicz, Zweite ernste Verwarnung. Ausgewählte Gedichte. Aus dem Polnischen von Henryk Bereska. München Wien 2000, hier: 37f.

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