Eigentlich wollte ich über die letzthin wieder bekannter gewordene Gottsucherin und Menschenfreundin Etty Hillesum an ihrem heutigen Todestag ein paar schöne fromme Dinge schreiben.
Sie ist am 30. November 1943 in Auschwitz ermordet worden und hat durch ihre Tagebücher und ihren Einsatz für jene, die früher aus Westerbork in den Niederlanden deportiert wurden und für die sie sich einsetzte, seit den 1980ern eine gewisse Bekanntheit erlangt.
Zwischen Tag und Nacht... Nowy Lubusz, 2021. |
Aber als ich mich in die Ausgabe ihrer Tagebücher mit dem schönen Titel „Das denkende Herz“ vertieft habe, haben mir gleich die ersten Seiten die Sprache verschlagen. Denn sie spricht darin relativ unverblümt (und natürlich ohne diese Begrifflichkeit zu verwenden) von einem anhaltenden geistlichen Missbrauch durch ihren Mentor und Therapeuten. Seine Position ist etwas verschwommen, weil besagter Julius Spier als „Psychochirologe“ praktizierte, was bedeutet, dass er aus den Händen seiner Klientinnen psychische Haltungen abzuleiten glaubte und diese dann „therapierte“. Eine Form eindeutiger Scharlatanerie, würden wir heute sagen. Dabei agierte Spier anscheinend sehr persönlich, charismatisch – und übergriffig.
Nicht nur die „therapeutischen“ Ringkämpfe (!) oder Berührungen im Intimbereich, sondern auch die Aufforderung an Etty, sie solle ihm einen „Freundschaftskuß“ geben, sprechen eine deutliche Sprache. Dazu kommt aber noch die psychische Manipulation beispielsweise durch die „Warnung“, sie solle sich nicht in ihn verlieben und die Hinweise, dass er sie attraktiv finde. Der rasche Wechsel zwischen sachlicher Rede über allgemeine Dinge und großer persönlicher Nähe mit intimen Selbstoffenbarungen des Therapeuten wird heute mindestens als unprofessionell angesehen.
Aber im Kontext zeigt es deutlich eine manipulative Tendenz: Distanz aufbauen und zugleich Nähe und Abhängigkeit herzustellen sind nach meiner Kenntnis recht deutliche Merkmale missbräuchlichen Verhaltens.
Etty Hillesum bemerkt diese Manipulation instinktiv sehr wohl, legt ihm seine Offenheit zugleich aber noch positiv aus.
Wie es scheint, reflektiert sie diese Strategien eingehend und kann sich nach vielen Versuchen und neuerlicher, ungewollt großer Nähe auch innerlich lösen.
Diese krassen Schilderungen der Tagebücher haben mich davon abgebracht, hier die wunderbaren geistlichen Worte und Gedanken zu referieren, wie ich es eigentlich vorhatte.
Wenngleich das Leben von Etty Hillesum noch viele schlimme Momente für die bereithielt, sich Phasen großer Traurigkeit und Verzweiflung mit unglaublicher Hoffnung und Menschenfreundlichkeit abwechselten, so bin ich doch momentan noch schockierter von dieser beschriebenen Art von psychischer Gewalt, die gleichwohl nicht durchgehend als solche wahrgenommen wurde (was es eher noch schlimmer als besser macht), als von dem, was später kam.
Am Ende ihres Tagebuchs schreibt die tief spirituell gegründete Etty Hillesum: „Man möchte ein Pflaster auf vielen Wunden sein.“
Ihre Zuwendung zu den Leidenden ist wunderbar und voller Mitgefühl, auch war sie früh spirituell gereift und von einer unglaublichen religiösen Weite – aber ich wünschte, sie hätte auch ihren eigenen Wunden (den offenen wie den vernarbten) viel Gefühl zuwenden können.
Es wird klar: Ihr Tod in Auschwitz hatte leider eine lange Vorgeschichte der Gewalt...
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