Sonntag, 19. Dezember 2021

Begegnung mit dem Heiligen. Etty Hillesum zum 4. Adventssonntag

 Der Besuch Marias bei Elisabeth wird für Elisabeth zur Begegnung mit dem Heiligen (Lk 1,39-45). Sie „wurde vom Heiligen Geist erfüllt“ (v41), jubelte und spürte die Bewegung des künftigen Propheten in ihrem Bauch.
Ähnliches geschieht 1942 Etty Hillesum – inmitten eines übermächtig bedrohlichen Alltags, mitten im Krieg als Jüdin in den Niederlanden, abends in ihrem Schlafzimmer.

Ja, wie war das gestern abend in meinem kleinen Schlafzimmer?
Ich war früh zu Bett gegangen und schaute durch das große, offene Fenster hinaus. Und mir war wieder, als wäre das Leben mit all seinen Geheimnissen mir sehr nahe, als könne ich es berühren. Mir war, als ruhte ich an der nackten Brust des Lebens und hörte seinen leisen, regelmäßigen Herzschlag. Ich lag in den nackten Armen des Lebens und fühlte mich sicher und beschützt. Und ich dachte: Wie sonderbar doch das ist. Es ist Krieg. Es gibt Konzentrationslager.

Unterschwellig heiliges Leben?
Frankfurt (Oder), 2021.
Die kleinen Grausamkeiten häufen sich immer mehr. Wenn ich die Straßen entlanggehe, weiß ich von vielen Häusern, an denen ich vorbeikomme: dort ist der Sohn im Gefängnis, dort wird der Vater als Geisel gehalten, und dort ist das Todesurteil eines achtzehnjährigen Sohnes zu beklagen. Und diese Straßen und Häuser liegen ganz in der Nähe meines Hauses. Ich kenne die Verzweiflung der Menschen, ich weiß um das viele menschliche Leid, das sich immer mehr anhäuft, ich weiß von Verfolgung und Unterdrückung, von Willkür und ohnmächtigem Haß und von vielem Sadismus. Ich weiß das alles und behalte jedes Stückchen Wirklichkeit im Auge, das zu mir dringt.
Und dennoch – in einem unbewachten, mir selbst überlassenen Augenblick liege ich auf einmal an der nackten Brust des Lebens, und seine Arme legen sich weich und beschützend um mich, und sein Herzklopfen kann ich gar nicht schildern: es ist so langsam und regelmäßig und leise, fast gedämpft, aber auch treu, als wollte es nie aufhören, und auch so gut und so barmherzig.
Das ist nun einmal mein Lebensgefühl, und ich glaube nicht, daß ein Krieg oder irgendwelche sinnlosen menschlichen Grausamkeiten etwas daran zu ändern vermögen
.“1

Ich bewundere diese junge jüdische Frau für ihre religiöse Spürfähigkeit und freue mich an ihrer mystischen Erfahrung. Sie ist offen für das, was politisch und gesellschaftlich gerade geschieht, kennt das Leid um sich herum nur allzu gut – und kann in all dem das Leben selbst spüren.

Das wünsche ich auch uns in diesen anstrengenden und aufgeheizten Corona-Zeiten: dass wir, umgeben von gesellschaftlichem Streit und Hass, inmitten einer enormen Krise unseres Gesundheitssystems, inmitten von viel Leid auf den Intensivstationen, trotzdem die unterschwellig, aber durchgängig wie ein Herzschlag anwesende Kraft göttlichen Lebens spüren.

 

1   J.G. Gaarlandt (Hg.), Das denkende Herz. Die Tagebücher der Etty Hillesum 1941-1943. Reinbek bei Hamburg 1985, 104.

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