Donnerstag, 9. Dezember 2021

Alle sind schuldig?! Erfahrungen aus der Gefängnisseelsorge. Eine Ansprache

Der folgende Text bildet die Grundlage einer Ansprache beim Potsdamer Hochschulgottesdienst zm Thema "Gefangene besuchen" als Werk der Barmherzigkeit am 05.12.2021. Dafür nehme ich einige Gedanken und Textpassagen aus früheren Beiträgen (z.B. von hier und hier und hier und hier und hier) noch einmal auf und stelle sie in einen größeren Kontext.

 

Die ersten Menschen mit Hafterfahrungen, denen ich begegnet bin, waren ehemalige KZ- und Gulag-Häftlinge in der Westukraine. Vor zwanzig Jahren machte ich dort einen Freiwilligendienst und besuchte Alte, die ihre Hafterfahrungen niemals thematisierten und andere Alte, die über nichts anderes sprachen.
Die Gründe für ihre Inhaftierung waren ganz einfach ihr Patriotismus, ihr Jüdischsein, ihre politische Meinung oder die Tatsache, dass sie Teil der Roten Armee waren. Jedenfalls waren die Gründe für ihre Haft keine Gründe, die es rechtfertigen würden, Menschen zu inhaftieren oder gar in ein Todeslager zu stecken.
Die ersten Menschen mit Hafterfahrungen, die ich kennenlernte, waren also unschuldig.

Blumen vor der Haftanstalt.
Plötzensee, 2020.
Ungefähr fünfzehn Jahre später habe ich begonnen, als Gefängnisseelsorger in der JVA Plötzensee zu arbeiten. Es ist ein historisch bedeutsamer Ort in der deutschen Geschichte. Denn auch hier saßen einst Verfolgte des NS-Regimes und vor allem wurden hier viele von ihnen hingerichtet.
Doch was haben diese Opfer eines Terrorregimes gemeinsam mit den Männern, die eingesperrt waren, als ich in Plötzensee gearbeitet habe?

In der JVA Plötzensee sitzen die leichteren Fälle, so genannte „Kurzstrafer“, also Verurteilte, die eine Haftstrafe bis ca. fünf Jahre abzusitzen haben. Da saßen Gewalttäter neben Betrügern, Autodiebe neben Drogendealern, Erpresser neben Insolvenzverschleppern,  Schwarzfahrer neben Drogensüchtigen, die ihre Sucht durch Diebstähle finanzieren. Ein breites Spektrum an Männern, die aus unterschiedlichen Gründen Gesetze gebrochen hatten.
Sie sitzen dort für ein Unrecht, auf das in Deutschland, heute einem Rechtsstaat,  der diesen Namen auch verdient, der Freiheitsentzug als Strafe steht.

Sie sind also eine Art Gegenbild zu denen, die ich vorher gesehen hatte – die unschuldig aus politischen Gründen inhaftiert worden waren.
Wenn es heute also darum geht, dass Gefangene zu besuchen ein gutes Werk sei, ein Werk der Barmherzigkeit, dann kann man sich natürlich fragen, wen wir dabei im Blick haben sollten – pointiert gesagt: Jene, die unschuldig oder jene, die schuldig inhaftiert wurden?

Schauen wir in die Bibel, dann hören wir vom unschuldig in Ägypten eingesperrten Josef, der durch eine Intrige in den Kerker kam. Wir hören von Jeremia, der wegen seines politischen Realismus in die Zisterne geworfen wird. Wir hören von der in Babylon gefangen gehaltenen Elite des Volkes Israel. Wir hören, wie im Psalm 102 von den Zerschlagenen und Gefangenen, um die sich der Herr kümmert. Nicht zuletzt haben auch Johannes der Täufer, Paulus, Petrus und natürlich Jesus selbst Hafterfahrung.

Sie merken es schon: Die Bibel erzählt ziemlich konsequent aus Sicht derer, die aus den unterschiedlichsten Gründen gefangen gehalten wurden. Sie sind die Sympathieträger. Wären wir also ein in dieser Logik christliches – oder biblisch geprägtes – Land, würden wir sicher anders auf Gefangene schauen, als wir es tatsächlich in den meisten Fällen tun.
Sympathieträger sind inhaftierte Menschen in unserer Welt nun wahrlich nicht.

Wer in ein Gefängnis gehen will, muss dafür viele Türen öffnen – und das gilt im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Es sind nicht nur die steinernen Mauern, es ist auch die eigene Verschlossenheit, die ich überwinden muss, wenn ich in eine Haftanstalt gehe. Denn ich gehe nicht zu Sympathieträgern.

Als Seelsorger musste ich mich immer wieder fragen:
Warum gehe ich eigentlich dorthin? Tue ich es um eines höheren Zweckes, der jenseits des vor mir sitzenden Inhaftierten liegt – oder tue ich es für diesen Inhaftierten?
Nehme ich die Menschen an? Dürfen sie (nach dem gängigen Klischeewort) so sein, wie sie nun einmal sind? Und wenn sie mir wirklich böse Fratzen zeigen, dürfen sie auch dann so sein?
Will ich die Freiheit dieser Menschen? Oder komme ich ganz gut damit zurecht, dass sie in vielfältiger Weise gefangen sind?
Wen bevorzuge ich? Bei wem muss ich mich überwinden, dass ich überhaupt ein zweites Mal hingehe, weil das Gespräch so furchtbar ist, oder der Geruch, oder die Anspruchshaltung, oder sonst was?

Ein wahrer Fragenhagel!
Die Antworten auf diese Fragen habe ich in den letzten Jahren immer wieder neu gesucht. Ein Vortrag wie dieser würde dafür nicht reichen.

Was ich sagen kann ist dies:
Ich bin zu allen gegangen – religiös oder nicht, Christen oder nicht, langjährige Hafterfahrene oder Erstverbüßer, schuldig oder nicht.
Und ich habe mich bemüht, zwei Dinge gegenüber Inhaftierten zu vermeiden.
Erstens: Ich wollte nicht als Richter zu ihnen kommen. Verurteilt hatte man sie schließlich schon. Trotzdem musste ich mir natürlich irgendwie ein Urteil bilden, um mit ihnen umzugehen.
Zweitens: Ich wollte nicht als Lehrer zu ihnen kommen. Schließlich waren es alles Erwachsene. Trotzdem wünschte ich mir natürlich, sie in eine gute Richtung wachsen zu sehen.

Und damit bin ich bei einem Thema, das mir sehr am Herzen liegt.
Kann man in Haft in eine gute Richtung wachsen?

Haft besteht im zeitlich begrenzten Entzug der individuellen Freiheit. Die zeitliche Begrenzung hat ihren Sinn darin, dass das Ziel der Haft in einer „Resozialisierung“ besteht. Natürlich gibt es extreme Einzelfälle, wo es nötig sein kann, jemanden zum Schutz der Gesellschaft einzusperren. Aber das ist nicht der Regelfall.
Seit der grundlegenden Reform des bundesdeutschen Justizvollzugs in den 1970er Jahren geht es theoretisch nicht erstrangig um den Freiheitsentzug als Strafe, sondern darum, den Straftätern in der Haft einen Weg zu zeigen, wie sie zukünftig ein Leben ohne Straftaten führen können.
Praktisch aber ist dies nicht der Fall.

Die JVA Plötzensee hat nach den Ausbrüche um die Jahreswende 2017/2018 eine traurige Berühmtheit erlangt. Durch eine Mauer in der KfZ-Werkstatt, die ursprünglich keine Außenmauer der Haftanstalt sein sollte, konnten sich Männer mit Werkzeug, das sie nicht haben durften, in einem Raum, in dem sie niemals ohne Aufsicht hätten sein dürfen, einen Ausgang durch eine spärlich gesicherte Mauer schaffen und sich so befreien.

Die Folge waren immense Restriktionen und Investitionen in mehr Sicherheit – also mehr Zäune, mehr technische Ausrüstung, mehr Repression – nicht aber mehr Stellen für Sozialarbeiter:innen oder Therapeut:innen, nicht Angebote für die soziale Weiterentwicklung, nicht bessere Begleitung in das Leben nach der Haft.
Die Öffentlichkeit erwartet in erster Linie Sicherheit und dementsprechend Härte – und das gibt ihr der Staat. Investitionen in das, was resozialisierend wirken kann, in das Wohl der Gefangenen, in Sport- und Freizeitbedarf, in Ausbildungen werden von der Öffentlichkeit nicht goutiert. Schließlich sind es ja die bösen Straftäter:innen, denen das zugute käme. Die dürften nicht belohnt werden.

Dabei wäre eine solche Sicht das Vernünftigste. Denn es werden doch sowieso fast alle Inhaftierten nach ein paar Jahren wieder entlassen. Und dann sollten sie bereit sein für ein verantwortliches Leben in Freiheit. Besser also während der Haftzeit darein investieren, dass sie nicht wieder straffällig werden, als später erneut einen Haftplatz für sie bereithalten!
Denn Resozialisierung ist keine Einbahnstraße! Wie soll denn jemand in eine Gesellschaft reintegriert werden, die das vielfach gar nicht will? (Neben einem Haftentlassenen wohnen – huh! Eine Arbeitsstelle finden – ui!) Für eine gelingende Resozialisierung braucht es aber beide Seiten – die Person, die sich wieder sozial integrieren möchte – und die Gesellschaft, die das strukturell ermöglicht und will.
Denn das sind wir einander schuldig!

Doch leider sind mehr Härte und mehr Sicherheit die Prämissen, die sich durchsetzen. Und sie fügen sich ein in ein ungutes Gesamtbild Inhaftierten und Haftalltag.
Viele Inhaftierte haben sich in einer Opferrolle eingerichtet: Alle sind gegen mich. Die Haft bestärkt sie oft darin.
Viele haben ein ganzes Leben lang erfahren: Ich bin eigentlich nichts wert, bin niemandem wichtig. Die Haft macht ihnen das noch einmal in voller Härte deutlich.
Viele erleben sich als machtlos und können Macht nur auf kriminelle Weise erfahren. Die Haft erleben sie dann ebenso als ein willkürliches System, in dem sie selbst ohnmächtig sind.
Viele kommen nur schwer aus ihrem kriminellen Milieu raus. Die Haft gibt ihnen die Chance, neue Kontakte in die kriminelle Subkultur zu knüpfen.
Viele können nicht verantwortlich mit Geld umgehen. In der Haft können sie durch illegale Händel hohe Schulden machen.
Viele haben Drogenprobleme. In Haft kann man alle Drogen bekommen.

Das mag in dieser Reihung zynisch klingen, aber leider ist es ein beachtlicher Teil der Realität in einer Haftanstalt.
Wer aus der Haft als ein besserer Mensch herauskommen möchte, muss gegen einen sehr starken Strom schwimmen. Und dieser Strom, der in die falsche Richtung fließt, hat systemische Ursachen:
Wenn jemand es in seinem Leben vor der Haft nicht geschafft haben, sozial verantwortlich zu leben, wird er es wohl kaum lernen, wenn er in einer Haftanstalt wenig bis keine Möglichkeiten hat wirklich Verantwortung zu übernehmen.
Inhaftierte müssten also regulär die Möglichkeit bekommen, echte Verantwortungsübernahme einzuüben, doch das heutige Gefängnis nimmt ihnen fast alle Entscheidungen ab. Ähnlich formuliert es der ehemalige Gefängnisdirektor Thomas Galli:
Straffällige lernen also in Haft gerade nicht, Entscheidungen zu treffen, vor allem nicht die richtigen. Vielmehr werden die Inhaftierten aller Entscheidungsnotwendigkeit, aber auch -möglichkeit enthoben; sie werden juristisch gesprochen entmündigt.“ (T. Galli, Weggesperrt. Warum Gefängnisse niemandem nützen. Hamburg 2020, 65. - mehr u.a. hier und hier)
Weder für ihre Familien noch für ihr eigenes ökonomisches Auskommen können sie in Haft sorgen, nicht über ihren Haftraum und wenig über ihre Nahrung entscheiden. Es gibt feste Aufschluss- und Einschlusszeiten, geringe Auswahl bei der Arbeit und eine äußerst eingeschränkte Möglichkeit an Freizeitbeschäftigungen.
Das Gefängnis ist in der Regel also kein Ort, wo man sich selbst so kennenlernen und reflektieren kann, dass ein wirklicher Lerneffekt daraus erwächst. Lernen würde erfolgen durch eine fehlerfreundliche Atmosphäre, durch positive Bestätigung bei Erfolgen und durch sanfte Korrekturen bei Fehltritten.
Fehler aber kann sich ein Inhaftierter nicht erlauben; Disziplinarmaßnahmen oder der Verlust von Vergünstigungen sind schnell bei der Hand. Spürbare Hafterleichterungen dagegen werden nur äußerst sparsam ermöglicht.

So aber kann das große Zauberwort des Justizvollzugs, so kann „Resozialisierung“ nicht funktionieren, in einem solchen von Ohnmacht und Gewalt, Anpassungsdruck und Unsicherheit geprägten System.
 
Dementsprechend frustrierend ist der Alltag. Sie haben in der Lesung aus Ps 102 (vv2-7.13-22) gehört, wie es auch manchem Inhaftierten geht.
In den täglichen Niederschriften über besondere Ereignisse in der Haftanstalt kann man dann von Gewalt gegen Sachen und Personen und von Gewalt gegen sich selbst z.B. Folgendes lesen:

„Mitteilung des VDL I, Hr. X, dass der im bgH befindliche ESF. Y erneut die Deckenbeleuchtung herunterriss und mittels dieser das Haftraumfenster zerstörte. Er wurde erneut unter Anwendung von UZWG fixiert und in den KIR II des JVK verbracht. Durch das zerstörte Fenster erlitt der Inh. leichte Schnittverletzungen, welche im JVK medizinisch versorgt wurden. Bedienstete wurden nicht verletzt.“
Einige Stunden später heißt es:
„Mitteilung der UAZ, dass der im KIR befindliche Inh. Y versuchte, sich mittels seiner Papierkleidung zu strangulieren, was jedoch aufgrund der geringen Belastbarkeit des Papiers misslang. Alle Gegenstände bis auf die Matratze wurden aus dem KIR entfernt. Bei der Untersuchung des Inh. konnten keinerlei Verletzungen festgestellt werden.“

Was für eine Verzweiflung spricht daraus! Was für eine Wut! Was für eine Ohnmacht!
Es zeigt: Ein Inhaftierter kommt aus der Notlage der Haft einfach nicht heraus. Er ist gefangen in jeder Hinsicht. Noch nicht einmal das Leben kann er sich nehmen.

Ich habe eine Zeitlang einen Inhaftierten im Haftkrankenhaus begleitet, der aus Protest gegen seine Verurteilung und Inhaftierung die Nahrungsaufnahme verweigerte. Er sprach nicht mit dem Personal, schnitt sich Haare und Fingernägel nicht mehr, aß nicht, ließ sich kein Blut abnehmen. Angesichts einer vergleichsweise geringen Haftstrafe von einigen Monaten für kleinere Ladendiebstähle kann man das sogar lächerlich finden.
Ihm aber war es ernst. Und die möglichen Konsequenzen waren todernst. Eine zwangsweise Ernährung wurde vom Gericht nicht angeordnet. Kommunikation war nahezu unmöglich. In dieser verfahrenen Situation wurde ich angefragt, ob ich mit ihm Kontakt aufnehmen könne.
Zunächst unterhielten wir uns schriftlich über einen Laptop, den er zur Verfügung gestellt bekommen hatte. Nach einer Phase der Annäherung sprachen wir auch miteinander. Sein Schweigen und Hungern sah er als die letzte Möglichkeit, seine Freiheit auszuleben. Der letzte hilflose Versuch, sich der Haft und dem Gefängnissystem zu widersetzen.
Ich konnte nicht alles nachvollziehen, was er tat oder erreichen wollte. Aber ich sah es auch nicht als meine Aufgabe an, ihn für seine Entscheidung zu kritisieren. Und ich freute mich jedes Mal, dass er noch lebte, wenn ich ins Haus kam!

Was ich aber wollte und was ich mit ihm geschafft habe, war Begegnung zu ermöglichen und dadurch mentale Freiräume zu eröffnen. Auch unter sehr widrigen Bedingungen ist das möglich. Und so nötig!
Das habe ich auch bei meinen Gesprächen mit diesem hungernden Inhaftierten gelernt.

Deshalb habe ich damals als eine Art Credo für mich formuliert – und damit möchte ich schließen:

Wo einer nur sich selbst sieht, möchte ich helfen, dass er auch andere wahrnehmen kann.
Wo einer nicht mehr weiter weiß, möchte ich Wege aufzeigen.
Wo einer keinen Boden mehr unter den Füßen spürt, möchte ich Halt vermitteln.
Wo einer sich nur noch als Knacki wahrnimmt, zeige ich ihm, dass er noch viel mehr ist.
Wo einer glaubt, dass mit der Haft alles aus ist, möchte ich ihm Hoffnung geben über die Zeit im Knast hinaus.
Wo einer glaubt, dass niemand ihn mag, zeige ich auf Gottes grenzenlose Liebe.
Wo einer seine Schuld nicht mehr aushält, biete ich ihm Gottes Vergebung an.
Wo einer denkt, dass alle gegen ihn sind, stehe ich auf seiner Seite.
Wo es nichts zu feiern gibt, da feiere ich Gottesdienst.

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