In den letzten
Themenreihen der Fastenzeit habe ich mich stark auf die Passion
fokussiert – 2016 "Der
Gekreuzigte" und 2018 "Das
Sterben spüren".
Das Thema in diesem Jahr
soll "Freiheitsgewinn" lauten, denn Fasten hat ja auch zu
tun mit dem Heraustreten aus der eigenen Begrenztheit hinein in die
Weite Gottes.
Es soll in den Beiträgen
unter diesem Titel darum gehen, Abhängigkeiten und Enge zu erspüren
und Freiheitspotenziale auszuloten.
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Am Beginn stehen im
vorliegenden Beitrag die Analysen und Schlussfolgerungen von Doris
Wagner, ehemalige Ordensfrau und (inzwischen verheiratete) Autorin
des bemerkenswerten Buches "Spiritueller Missbrauch in der
katholischen Kirche".1
Müll im Schatten, das andere Ufer im Licht. Westhafen, Berlin, 2018. |
Nach ihrer
achtjährigen Mitgliedschaft in der katholischen "Geistlichen
Familie Das Werk" und dem Austritt aus dieser Gemeinschaft im
Jahr 2011, was sie in "Nicht
mehr ich" reflektiert, tritt sie im aktuellen Buch einen
Schritt zurück und schaut nicht auf ihre eigenen Erlebnisse, sondern
strukturiert und systematisch auf das, was sie mit einer Formulierung
von Klaus Mertes SJ "spirituellen
Missbrauch" nennt2
und was sie lange selbst erleben musste.
Titel und Inhalt treffen
mitten in eine der katholischsten Wunden – denn das Buches kreist
um die "spirituelle Selbstbestimmung"3
des Einzelnen und darum, was diese Selbstbestimmung in der
Institution katholische Kirche strukturell fördert und was sie
strukturell behindert.
Das Individuum und seine
Beziehung zu Gott – hier lag schon sehr prominent in den Anfragen
der Reformatoren ein Knackpunkt für die kirchliche Praxis. Aus den
vielen Fallbeispielen, die Wagner vornehmlich aus neueren Geistlichen
Gemeinschaften anführt, ergibt sich, dass die Frage auch heute noch
aktuell ist: Wie sehr ist ein Gläubiger frei, seine Spiritualität
selbst zu bestimmen, wie sehr ist er abhängig von Geistlichen
Begleiterinnen und Beichtvätern?
Zunächst geht es im Buch
um Begriffsbestimmungen und Abgrenzungen: In sehr weit gefasster
Weise versteht Wagner unter Spiritualität in erster Linie
"Sinnstiftung"4
auf verschiedenen Lebensebenen. Zudem macht sie klar, dass es keine
einheitliche katholische Spiritualität gibt, sondern schon biblisch
und auch frömmigkeitsgeschichtlich eine Vielfalt bezeugt wird, die
ernstzunehmen ist. Dies stellt sich im Folgenden als wichtige
Klarstellung heraus.
Eine weitere Markierung
Wagners ist die Frage, ob ein Mensch "spirituell
handlungsfähig"5
ist. Denn für die spirituelle Bewältigung von Krisen hängt viel
davon ab, ob ein Mensch spirituelle Ressourcen besitzt, um
"Sinnfindung und Sinngebung im eigenen Leben selbstbestimmt
vornehmen zu können."6
Sich den eigenen aktuellen
Bedürfnissen gemäß spirituell zu entwickeln und frei neue
Konzepte, Rituale und Umgangsweisen auf religiösem oder
lebenspraktischem Gebiet zu entdecken, gehört darum aus Wagners
Perspekive fundamental zu christlicher Spiritualität. Dies begründet
sie sehr schlüssig in theologisch wie ethisch nachvollziehbarer
Weise.
Nun erreicht das Buch die
Zielhöhe: Drei Formen spirituellen Missbrauchs unterscheidet die
Autorin und betont, dass in jeder dieser Formen eine "Verletzung
des spirituellen Selbstbestimmungsrechtes"7
vorliegt.
"Spirituelle
Vernachlässigung"8
als ersten Fall spirituellen Missbrauchs sieht Wagner dann gegeben,
wenn nicht die individuellen Bedürfnisse, Talente und Fragen einer
Person im Fokus der geistlichen Begleitung stehen, sondern die
Antworten, die gegeben werden, am Leben der Person völlig
vorbeigehen.
Das kann einhergehen mit
der Festlegung auf einen bestimmten Sinn des Lebens, mit dem sich die
betreffende Person gar nicht identifizieren kann. Benannt wird im
Buch das Beispiel von Eltern, die ihrem Sohn nie eine andere
Lebensrichtung eröffnet haben als den Weg zum Priestertum. Wer keine
anderen Visionen von sich und seiner Zukunft entwickeln kann als die
ihm vorgelegten, lebt nicht spirituell frei und selbstbestimmt. Dazu
gehört auch die automatische Selbstzensur, wenn irritierende
Regungen oder Kritik an einer religiösen Übung nur als Versuchung
oder Abirrung begriffen werden können.
Spannend ist an diesem
Punkt, dass die Autorin eine Sensibilität dafür entwickelt, in
welchen scheinbaren Kleinigkeiten die Begrenzung religiöser Freiheit
schon beginnt.
In Erziehung und
Begleitung ein Tableau spiritueller Möglichkeiten zu eröffnen, wäre
demzufolge schon ein erster wichtiger Schritt, der spirituellen
Missbrauch verunmöglicht. Stattdessen ist es gut und nützlich,
Identifikationsfiguren, Rituale und Geschichten aus verschiedenen
Zusammenhängen anzubieten.
"Spirituelle
Manipulation"9
nennt Doris Wagner als zweite Form von geistlichem Missbrauch, die
auf der ersten aufbaut. Das Ziel von Tätern ist es, die begleiteten
Personen "zu einer bestimmten spirituellen Wahrnehmung oder
zu bestimmten Entscheidungen und Handlungen zu drängen."10
Das kann im immer tieferen
Eintreten in eine geistliche Bewegung sehr schleichend gehen. Wenn
man aus der Außensicht die angeführten Beispiele hanebüchener
Deutungen von Alltagsphänomenen, von geistlichen Idealen wie Hingabe
und Treue oder von Gebeten liest, mag man fast nicht glauben, dass es
so leicht sein kann, Menschen zu manipulieren. Doch wer intensiv auf
religiöser Suche ist und durch ansprechend gestaltete, doch
tendenziös ausgerichtete Gebetszeiten, dauerlächelnde
Ordensmitglieder und einseitige Begleitgespräche in eine bestimmte
Richtung gedrängt und gezogen wird, verliert unter Umständen
langsam und nach und nach den Kontakt zu seinem kritischen
Bewusstsein – und schließlich auch "den Kontakt zu sich
selbst", denn er / sie hat dann gelernt "die Welt
mit den Augen des Manipulators zu sehen".11
Ausblick bieten. Markt in Halle /Saale, 2016. |
Das ist wohl die
entscheidende Gefahr, die den Ausstieg aus dieser manipulierten
Weltsicht und der mit ihr verbundenen Gemeinschaft so schwer macht.
Nicht mehr die eigenen Bedürfnisse und Empfindungen werden
wahrgenommen, alles ist nur noch durch die eingeimpfte Ideologie zu
sehen. Sich davon zu befreien, ist ein langer Weg.
"Spirituelle
Gewalt"12
schließlich zeichnet sich aus durch Kontaktverbote, erzwungene
Brüche mit der eigenen Biographie, Ausbeutung und mehr.
Gerade die gewaltsame
Unterbindung von Kontakten nach außen scheint mir hier zentral –
denn damit wird den Opfern jegliche Möglichkeit genommen, andere
Perspektiven und damit Hilfen in ihr Leben hereinzulassen.
Die von Wagner angeführten
einzelnen Beispiele sind zum Teil derart grausam, dass sich mir der
sektenartige Charakter mancher Gemeinschaften erst dadurch voll
erschlossen hat. Katholisch geht anders!
Es ist mir hier wichtig zu
betonen, dass Wagners Schreibstil bei all dem ein sehr sachlicher und
die Aussagen sehr ausgewogene sind. Dem Buch liegt nicht an
Skandalisierung, wohl aber an einer deutlichen Kritik und am klaren
Anprangern des Missbrauchs.
Äußerst spannend ist die
anschließende Beschreibung zweier Traditionen, in denen die Autorin
die Wurzel der verhaltenen Reaktionen auf Fälle solchen Missbrauchs
seitens der Kirche erkennt. Einmal nennt sie die freiheitliche
Betonung von geistlicher Selbstbestimmung auf dem Weg mit Gott. Auf
der anderen Seite gibt es den klaren Zeigefinger der Kirche, der dazu
aufruft, sich in diesen Fragen der kirchlichen Autorität zu
unterwerfen.
Beides lässt sich nach
Wagner nicht zusammenbringen: "Entweder folge ich der
Autorität oder ich folge meiner inneren Stimme."13
Das ist eine radikale These.
Und genau hier liegt meine einzige
Anfrage an das sonst sehr gute Buch.
Wagner vermeidet es, eine
theologische Antwort zu geben und argumentiert von den Konsequenzen
her, die sie sehr weit in die eine oder in die andere Richtung
auszieht: Was geschieht im Extremfall, wenn sich jemand der
kirchlichen Autorität unterordnet und was, wenn er / sie nur auf das
eigene Gewissen hört? Natürlich folgt ein Plädoyer für das
Individuum und seinen jeweils eigenen Weg.
Doch ist diese Alternative
nicht falsch gesetzt? Kann es in einer Offenbarungsreligion, in der
äußere Ansprache und innere Entscheidung doch immer
zusammengehören, eine solche Inkompatibilität überhaupt geben?
Schließlich sind meiner Ansicht nach beide Positionen unhintergehbar
und müssen zur Geltung gebracht werden: die den Glauben vorlegende
Schrift, Institution, Begleitung und das hörende und sich dazu
verhaltende Individuum.
Ich frage mich hier (als
auch bei den daraus gezogenen Schlussfolgerungen), ob die Autorin
nicht etwas über ihr Ziel hinausschießt. Sicher wären zu diesem
Thema tiefer gehende Überlegungen notwendig, die an dieser Stelle
aber nicht geleistet werden können.
Nichtsdestotrotz liefert
Doris Wagner ein Buch zur rechten Zeit:
Der Ausbruch aus
Unmündigkeit und Abhängigkeit, die Lossagung von missbräuchlichen
Autoritäten und die Fokussierung auf die spirituellen Bedürfnisse
der Einzelnen sind ein echter Freiheitsgewinn.
Und die Lektüre kann
diese Freiheit ermöglichen, sie kann helfen, manipulatives Verhalten zu entlarven und Widerstand zu wagen (in der Kirche und darüber hinaus).
Für mich persönlich
waren im Buch auch einige spannende Fragen versteckt, inwieweit ich
in der Begleitung im Gefängnis oder in der Arbeit mit Gruppen die
geistliche Selbstbestimmung respektiere und aktiv beitrage zur
intensiven Arbeit am selbstgesteuerten spirituellen Wachstum.
Gravierende Fehler muss
ich mir hoffentlich nicht vorwerfen, doch kann ich mich regelmäßig
kritisch fragen, inwiefern ich ungeachtet der Fassungskraft und
Situation meines Gegenübers nur mein eigenes Lieblingsprogramm
abspule, ob ich Gebetsformen wähle, die nicht nur bewegen, sondern
auch freisetzen, ob ich eine Vielfalt an geistlichen Übungen aus der
katholischen (und eventuell auch einer anderen) Tradition anbiete...
Nicht zuletzt hat die
Lektüre meine Sensibilität für missbräuchliches Verhalten und die
Not missbrauchter Menschen geschärft.
Ein Licht angezündet. Grünheide, 2019. |
1 D.
Wagner, Spritueller Missbrauch in der katholischen Kirche. Freiburg
i.Br. 2019.
2 Vgl.
ebd., 205.
3 Ebd.,
40.
4 Ebd.,
30.
5 Ebd.,
40.
6 Ebd.,
42.
7 Ebd.,
79.
8 Ebd.,
81.
9 Ebd.,
99.
10 Ebd.,
101.
11 Ebd.,
127.
12 Ebd., 129.