Donnerstag, 21. März 2019

Freiheitsgewinn 1 – "Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche" von Doris Wagner

In den letzten Themenreihen der Fastenzeit habe ich mich stark auf die Passion fokussiert – 2016 "Der Gekreuzigte" und 2018 "Das Sterben spüren".
Das Thema in diesem Jahr soll "Freiheitsgewinn" lauten, denn Fasten hat ja auch zu tun mit dem Heraustreten aus der eigenen Begrenztheit hinein in die Weite Gottes.
Es soll in den Beiträgen unter diesem Titel darum gehen, Abhängigkeiten und Enge zu erspüren und Freiheitspotenziale auszuloten.

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Am Beginn stehen im vorliegenden Beitrag die Analysen und Schlussfolgerungen von Doris Wagner, ehemalige Ordensfrau und (inzwischen verheiratete) Autorin des bemerkenswerten Buches "Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche".1

Müll im Schatten, das andere Ufer im Licht.
Westhafen, Berlin, 2018.
Nach ihrer achtjährigen Mitgliedschaft in der katholischen "Geistlichen Familie Das Werk" und dem Austritt aus dieser Gemeinschaft im Jahr 2011, was sie in "Nicht mehr ich" reflektiert, tritt sie im aktuellen Buch einen Schritt zurück und schaut nicht auf ihre eigenen Erlebnisse, sondern strukturiert und systematisch auf das, was sie mit einer Formulierung von Klaus Mertes SJ "spirituellen Missbrauch" nennt2 und was sie lange selbst erleben musste.

Titel und Inhalt treffen mitten in eine der katholischsten Wunden – denn das Buches kreist um die "spirituelle Selbstbestimmung"3 des Einzelnen und darum, was diese Selbstbestimmung in der Institution katholische Kirche strukturell fördert und was sie strukturell behindert.
Das Individuum und seine Beziehung zu Gott – hier lag schon sehr prominent in den Anfragen der Reformatoren ein Knackpunkt für die kirchliche Praxis. Aus den vielen Fallbeispielen, die Wagner vornehmlich aus neueren Geistlichen Gemeinschaften anführt, ergibt sich, dass die Frage auch heute noch aktuell ist: Wie sehr ist ein Gläubiger frei, seine Spiritualität selbst zu bestimmen, wie sehr ist er abhängig von Geistlichen Begleiterinnen und Beichtvätern?

Zunächst geht es im Buch um Begriffsbestimmungen und Abgrenzungen: In sehr weit gefasster Weise versteht Wagner unter Spiritualität in erster Linie "Sinnstiftung"4 auf verschiedenen Lebensebenen. Zudem macht sie klar, dass es keine einheitliche katholische Spiritualität gibt, sondern schon biblisch und auch frömmigkeitsgeschichtlich eine Vielfalt bezeugt wird, die ernstzunehmen ist. Dies stellt sich im Folgenden als wichtige Klarstellung heraus.

Eine weitere Markierung Wagners ist die Frage, ob ein Mensch "spirituell handlungsfähig"5 ist. Denn für die spirituelle Bewältigung von Krisen hängt viel davon ab, ob ein Mensch spirituelle Ressourcen besitzt, um "Sinnfindung und Sinngebung im eigenen Leben selbstbestimmt vornehmen zu können."6
Sich den eigenen aktuellen Bedürfnissen gemäß spirituell zu entwickeln und frei neue Konzepte, Rituale und Umgangsweisen auf religiösem oder lebenspraktischem Gebiet zu entdecken, gehört darum aus Wagners Perspekive fundamental zu christlicher Spiritualität. Dies begründet sie sehr schlüssig in theologisch wie ethisch nachvollziehbarer Weise.

Nun erreicht das Buch die Zielhöhe: Drei Formen spirituellen Missbrauchs unterscheidet die Autorin und betont, dass in jeder dieser Formen eine "Verletzung des spirituellen Selbstbestimmungsrechtes"7 vorliegt. 

"Spirituelle Vernachlässigung"8 als ersten Fall spirituellen Missbrauchs sieht Wagner dann gegeben, wenn nicht die individuellen Bedürfnisse, Talente und Fragen einer Person im Fokus der geistlichen Begleitung stehen, sondern die Antworten, die gegeben werden, am Leben der Person völlig vorbeigehen.
Das kann einhergehen mit der Festlegung auf einen bestimmten Sinn des Lebens, mit dem sich die betreffende Person gar nicht identifizieren kann. Benannt wird im Buch das Beispiel von Eltern, die ihrem Sohn nie eine andere Lebensrichtung eröffnet haben als den Weg zum Priestertum. Wer keine anderen Visionen von sich und seiner Zukunft entwickeln kann als die ihm vorgelegten, lebt nicht spirituell frei und selbstbestimmt. Dazu gehört auch die automatische Selbstzensur, wenn irritierende Regungen oder Kritik an einer religiösen Übung nur als Versuchung oder Abirrung begriffen werden können.
Spannend ist an diesem Punkt, dass die Autorin eine Sensibilität dafür entwickelt, in welchen scheinbaren Kleinigkeiten die Begrenzung religiöser Freiheit schon beginnt.
In Erziehung und Begleitung ein Tableau spiritueller Möglichkeiten zu eröffnen, wäre demzufolge schon ein erster wichtiger Schritt, der spirituellen Missbrauch verunmöglicht. Stattdessen ist es gut und nützlich, Identifikationsfiguren, Rituale und Geschichten aus verschiedenen Zusammenhängen anzubieten.

"Spirituelle Manipulation"9 nennt Doris Wagner als zweite Form von geistlichem Missbrauch, die auf der ersten aufbaut. Das Ziel von Tätern ist es, die begleiteten Personen "zu einer bestimmten spirituellen Wahrnehmung oder zu bestimmten Entscheidungen und Handlungen zu drängen."10
Das kann im immer tieferen Eintreten in eine geistliche Bewegung sehr schleichend gehen. Wenn man aus der Außensicht die angeführten Beispiele hanebüchener Deutungen von Alltagsphänomenen, von geistlichen Idealen wie Hingabe und Treue oder von Gebeten liest, mag man fast nicht glauben, dass es so leicht sein kann, Menschen zu manipulieren. Doch wer intensiv auf religiöser Suche ist und durch ansprechend gestaltete, doch tendenziös ausgerichtete Gebetszeiten, dauerlächelnde Ordensmitglieder und einseitige Begleitgespräche in eine bestimmte Richtung gedrängt und gezogen wird, verliert unter Umständen langsam und nach und nach den Kontakt zu seinem kritischen Bewusstsein – und schließlich auch "den Kontakt zu sich selbst", denn er / sie hat dann gelernt "die Welt mit den Augen des Manipulators zu sehen".11
Ausblick bieten.
Markt in Halle /Saale, 2016.
Das ist wohl die entscheidende Gefahr, die den Ausstieg aus dieser manipulierten Weltsicht und der mit ihr verbundenen Gemeinschaft so schwer macht. Nicht mehr die eigenen Bedürfnisse und Empfindungen werden wahrgenommen, alles ist nur noch durch die eingeimpfte Ideologie zu sehen. Sich davon zu befreien, ist ein langer Weg.

"Spirituelle Gewalt"12 schließlich zeichnet sich aus durch Kontaktverbote, erzwungene Brüche mit der eigenen Biographie, Ausbeutung und mehr.
Gerade die gewaltsame Unterbindung von Kontakten nach außen scheint mir hier zentral – denn damit wird den Opfern jegliche Möglichkeit genommen, andere Perspektiven und damit Hilfen in ihr Leben hereinzulassen.
Die von Wagner angeführten einzelnen Beispiele sind zum Teil derart grausam, dass sich mir der sektenartige Charakter mancher Gemeinschaften erst dadurch voll erschlossen hat. Katholisch geht anders!

Es ist mir hier wichtig zu betonen, dass Wagners Schreibstil bei all dem ein sehr sachlicher und die Aussagen sehr ausgewogene sind. Dem Buch liegt nicht an Skandalisierung, wohl aber an einer deutlichen Kritik und am klaren Anprangern des Missbrauchs.

Äußerst spannend ist die anschließende Beschreibung zweier Traditionen, in denen die Autorin die Wurzel der verhaltenen Reaktionen auf Fälle solchen Missbrauchs seitens der Kirche erkennt. Einmal nennt sie die freiheitliche Betonung von geistlicher Selbstbestimmung auf dem Weg mit Gott. Auf der anderen Seite gibt es den klaren Zeigefinger der Kirche, der dazu aufruft, sich in diesen Fragen der kirchlichen Autorität zu unterwerfen.
Beides lässt sich nach Wagner nicht zusammenbringen: "Entweder folge ich der Autorität oder ich folge meiner inneren Stimme."13 Das ist eine radikale These. 
Und genau hier liegt meine einzige Anfrage an das sonst sehr gute Buch.
Wagner vermeidet es, eine theologische Antwort zu geben und argumentiert von den Konsequenzen her, die sie sehr weit in die eine oder in die andere Richtung auszieht: Was geschieht im Extremfall, wenn sich jemand der kirchlichen Autorität unterordnet und was, wenn er / sie nur auf das eigene Gewissen hört? Natürlich folgt ein Plädoyer für das Individuum und seinen jeweils eigenen Weg.

Doch ist diese Alternative nicht falsch gesetzt? Kann es in einer Offenbarungsreligion, in der äußere Ansprache und innere Entscheidung doch immer zusammengehören, eine solche Inkompatibilität überhaupt geben? Schließlich sind meiner Ansicht nach beide Positionen unhintergehbar und müssen zur Geltung gebracht werden: die den Glauben vorlegende Schrift, Institution, Begleitung und das hörende und sich dazu verhaltende Individuum.
Ich frage mich hier (als auch bei den daraus gezogenen Schlussfolgerungen), ob die Autorin nicht etwas über ihr Ziel hinausschießt. Sicher wären zu diesem Thema tiefer gehende Überlegungen notwendig, die an dieser Stelle aber nicht geleistet werden können.

Nichtsdestotrotz liefert Doris Wagner ein Buch zur rechten Zeit:
Der Ausbruch aus Unmündigkeit und Abhängigkeit, die Lossagung von missbräuchlichen Autoritäten und die Fokussierung auf die spirituellen Bedürfnisse der Einzelnen sind ein echter Freiheitsgewinn.
Und die Lektüre kann diese Freiheit ermöglichen, sie kann helfen, manipulatives Verhalten zu entlarven und Widerstand zu wagen (in der Kirche und darüber hinaus).

Für mich persönlich waren im Buch auch einige spannende Fragen versteckt, inwieweit ich in der Begleitung im Gefängnis oder in der Arbeit mit Gruppen die geistliche Selbstbestimmung respektiere und aktiv beitrage zur intensiven Arbeit am selbstgesteuerten spirituellen Wachstum.

Gravierende Fehler muss ich mir hoffentlich nicht vorwerfen, doch kann ich mich regelmäßig kritisch fragen, inwiefern ich ungeachtet der Fassungskraft und Situation meines Gegenübers nur mein eigenes Lieblingsprogramm abspule, ob ich Gebetsformen wähle, die nicht nur bewegen, sondern auch freisetzen, ob ich eine Vielfalt an geistlichen Übungen aus der katholischen (und eventuell auch einer anderen) Tradition anbiete...

Nicht zuletzt hat die Lektüre meine Sensibilität für missbräuchliches Verhalten und die Not missbrauchter Menschen geschärft.

Ein Licht angezündet.
Grünheide, 2019.

1   D. Wagner, Spritueller Missbrauch in der katholischen Kirche. Freiburg i.Br. 2019.
2   Vgl. ebd., 205.
3   Ebd., 40.
4   Ebd., 30.
5   Ebd., 40.
6   Ebd., 42.
7   Ebd., 79.
8   Ebd., 81.
9   Ebd., 99.
10   Ebd., 101.
11   Ebd., 127.

12   Ebd., 129.


13   Ebd., 150.