Deutschland befindet sich nicht im
Krieg.
Auch nicht gegen ein Virus. Angesichts
der martialischen Kriegsrhetorik anderer Staatsführer bin ich sehr
froh über das besonnene und zugleich verantwortliche Vorgehen
unserer Politikerinnen und Politiker in der Corona-Krise.
Jetzt, da wesentliche Lockerungen in
dieser Sache beschlossen und zum Teil schon eingeführt sind, drängt
sich mir trotzdem der Vergleich mit dem heutigen Feiertag auf.
Blick durchs Buch ins Licht. Neukölln, 2020. |
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Das Ende des Zweiten Weltkrieges ist
nun 75 Jahre her. Jedenfalls wurde am 8. Mai der offizielle
Schlusspunkt unter das jahrelange Gemetzel gesetzt, das ca. 55
Millionen Menschen weltweit das Leben gekostet hatte. Allerdings
bedeutete die Unterzeichnung der Kapitulation nicht das Ende des
Leidens für die vielen vom Krieg Betroffenen. Lager, Gefangenschaft,
Hunger, Vertreibung und Verlust traten vielmehr für die meisten
Menschen nur in eine neue Phase ein. Weder der Frieden noch die
politische Souveräntität standen über Nacht auf der Stelle.
Ähnliches beobachten wir gerade beim Ausstieg aus den vielen mit Corona verbundenen Einschränkungen. Das ist kein rascher Exit, an dem wir an dem einen Tag noch drinnen und am nächsten Tag schon draußen sind.
Einkaufen geht schon – Singen im
Gottesdienst noch nicht. Die Spielplätze sind offen – aber im
Supermarkt müssen wir Masken tragen.
In kleinen, tastenden Schritten muss die Frage gestellt und immer neu abgewogen werden: Wie kommen wir aus der Unfreiheit wieder heraus, die vor allem die Schwachen retten soll – und welches ist der richtige Weg, damit das Virus sich nicht weit ausbreitet?
In kleinen, tastenden Schritten muss die Frage gestellt und immer neu abgewogen werden: Wie kommen wir aus der Unfreiheit wieder heraus, die vor allem die Schwachen retten soll – und welches ist der richtige Weg, damit das Virus sich nicht weit ausbreitet?
Damals: Schrittweise eintretender
Frieden hin zu neuer politischer Eigenverantwortung.
Heute: Schrittweises Erringen der neuen
Freiheit unter der Verantwortung für die Risikogruppen.
Schrittweises Vorgehen halte ich
meistens für viel sinnvoller als den Versuch des einen großen
Wurfs. Denn wir brauchen Zeit, um innerlich abzurüsten. Der
menschliche Geist muss sich in die neue Form "Frieden"
erst wieder hineinfinden.
Nicht nur die Soldaten brauchten damals
etwas Übung, um sich wieder neu als Ehemänner und Väter, Schlosser
und Angestellte zu definieren. Auch die deutsche Zivilbevölkerung
musste langsam herausfinden aus der Angst vor den Bomben, aus den
nationalsozialistischen Trugbildern und aus der liebgewonnenen Rolle,
bloß ein Opfer derer "da oben" zu sein. Das dauerte
bisweilen Jahre und Jahrzehnte – denn die individuellen und
kollektiven Selbstbilder leiden im Krieg und unter Diktaturen mehr
als in Frieden und Freiheit.
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Für mich als Theologen sind Frieden
und Freiheit zentrale Werte in religiöser und säkularer Hinsicht.
Nur in Frieden und Freiheit können wir in immer größere
Verantwortung gegenüber Gott und den Menschen wachsen.
Und auch das langsame Ausschleichen des
einen in einen neuen Zustand halte ich für angemessener. Zwei
Beispiele aus dem religiösen Raum:
Noch Absperrband. Blossin, 2020. |
Bei Bekehrungen finde ich
diejenigen, die sich radikal von einem auf den anderen Tag bekehren
und heute das Gegenteil von ihrer gestrigen Meinung herausposaunen,
eher verdächtig als jene, die leise und abwägend ausprobieren, wie
ein Glaube oder eine neue Spiritualität zu ihnen passen könnte. Wer
langsam geht und in seine neue Richtung eher schleicht als
marschiert, imponiert zwar nicht so, kann aber seine kleinen Schritte
sicherer setzen. Wahrscheinlich ist seine Religiosität beständiger
als das hastige Entschiedensein, das den langen Atem nicht kennt.
Für
kirchliche Reformen ist es höchste Zeit – und beim
langsamen Vorgehen der Amtsträger verfestigt sich der Eindruck, dass
die klerikalen Würdenträger aus Unlust bremsen. Das mag in vielen
Fällen so sein (Gott gebe, dass es nicht die meisten sind), aber um
beim Vorangehen ein Auseinanderbrechen der weltweiten Kirche zu
verhindern, sind kleine Schritte wohl am wirksamsten. Auch werden am
Ende sicher nicht alle Gläubigen bei allen Schritten mitgenommen
werden können, aber das Verständnis muss langsam wachsen. Hier
scheint mir vor allem eine (verbale) Abrüstung der verhärteten
Fronten nötig. Und dann das Vorangehen in kleinen Schritten.
3
Und doch – ein Widerhaken:
Wahrscheinlich hilft uns Menschen in
vielen Fällen ein klarer Schnitt. Ein Haken hinter eine Sache. Ein
Aufatmen, das es vorbei ist.
Auch wenn das der Wirklichkeit nicht
immer vollkommen entspricht, so brauchen wir doch symbolische
Eckpunkte, an denen wir uns orientieren können.
Ein solcher Tag ist heute. Er steht
exemplarisch für die Befreiung von der Herrschaft des Krieges und
des Nationalsozialismus. Auch wenn diese Befreiung an den
verschiedenen Orten und bei den unterschiedlichen Menschen zu
verschiedener Zeit angekommen ist.
Als symbolischer Tag ist und bleibt er
wichtig, um uns zum Frieden und zur Freiheit, zur Abrüstung und zur
Verantwortung zu mahnen. Damit auch unser Alltag Schritt für Schritt
friedlicher und freier wird.
Weitblick hinter Stacheldraht?! Neukölln, Berlin, 2020. |
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