Ich hätte es gern anders gemacht und wollte zunächst mit einigen Worten von Betroffenen sexueller Übergriffe in der Kirche beginnen, ihrer Meinung exemplarisch Raum geben.
Aber ich habe gemerkt, dass ich mir nur ein Placebo gewünscht hätte, um mich besser zu fühlen, da ich mich im Folgenden doch auf die Täter fokussiere.
Das ist traurig, aber da ich keinen anderen Rat weiß, möchte ich es immerhin erwähnen.
Das Entsetzen und Erschrecken und der Zorn und Ärger über die Taten von Kirchenmännern sind – auch von Kirchenmännern – so oft geäußert, dass es schon kaum mehr zum Aushalten ist. Und viele haben das alles schon längst nicht mehr ausgehalten und sind gegangen.
Nun kommt die nächste Welle des Schreckens, dieses Mal aus München.
Ganz viel Rauch bei Ratzinger. Frankfurt, 2021. |
Einige Worte zu den ausführlichen Einlassungen Ratzingers:
Es beginnt schon in der Einleitung.
Zusammenfassend stellt Joseph Ratzinger fest, dass er „von den relevanten Sachverhalten, nämlich Taten bzw. Tatverdachten sexuellen Missbrauchs der von Ihnen in der Befragung benannten Personen, keine Kenntnis hatte.“ (S. 1278)
Damit scheint alles Wesentliche gesagt, was dem Papst emeritus wichtig ist.
Die Folge: ich wusste nichts, ich weiß nicht, wer irgendetwas wusste, manchmal wusste niemand etwas, deshalb konnte niemand etwas tun – und am allerwenigsten ich selbst.
Es ist eine, wie die FAZ zurecht bemerkt, „Rechtfertigungsstrategie, die sich in der juristischen Systemlogik verbarrikadiert, damit vor Gericht vielleicht einen Freispruch mangels Beweisen erzielen würde“ und sonst klarstellt, dass man das damals alles nicht richtig einschätzen konnte.
Und ja, diese Formulierungen gehen wirklich an die Nerven, andauernd steht da:
„...nicht vermerkt, dass ich es persönlich wahrgenommen habe.“
Oder:
„Aus den Akten geht nicht hervor, in welchem Umfang ich in diesem Gespräch … über den Vorgang informiert worden sein soll.“
Oder:
„Ich hatte keine Kenntnis.“
Oder:
"Über die Gründe ... hatte und habe ich keine Kenntnis."
Oder:
"An ein Gespräch ... mit Herrn ... habe ich keine Erinnerung, sodass ich davon ausgehe, dass ein solches Gespräch nicht stattgefunden hat."
Oder:
"Dass mir ... tatsächlich zur Kenntnis gelangt ist, ergibt sich aus den Akten nicht."
Es wird einem ganz schlecht davon, wie viel (vermeintliche) juristische Eindeutigkeit da aufgeboten wird, um nur ja bei jedem Fall klarzumachen, dass Erzbischof Ratzinger niemals etwas gewusst hat.
Aber auch das Unterscheidungsvermögen ist befremdlich unterentwickelt: „Pfarrer X. ist als Exhibitionist aufgefallen, aber nicht als Missbrauchstäter im eigentlichen Sinn.“ (1323) Die weiteren Ausführungen erspare ich uns an dieser Stelle, aber die Beschreibung Ratzingers lässt erkennen, dass sein Einfühlungsvermögen nicht weit reicht.
Juristische Abwägungen reichen nicht aus.
Da treffen die Gutachter den wundesten Punkt, dass die Kirche, an ihren eigenen Maßstäben gemessen, nicht nur versagt, sondern kläglich verendet.
Dazu wäre noch so viel zu sagen. Aber es wird nicht besser.
Unfassbare Einblicke. Frankfurt, 2021. |
Auch Ratzingers Nachfolger Friedrich Wetter will sich übrigens historisch einordnen und schreibt:
„Hätte ich in meiner Amtszeit das Wissen von nach 2010 gehabt, hätte ich die Täter noch konsequenter behandelt und mich den Opfern zugewandt und ihnen den Vorrang gegeben vor dem Ansehen der Kirche.“ (1848)
Ob man vor 2010 so viel unsensibler sein musste bzgl. der Schädigungen, die aus sexueller Gewalt entstehen können, sei mal dahingestellt.
Aber Wetter sieht im Gegensatz zu Ratzinger seinen blinden Fleck, der eben auch der von Ratzinger war – die Kirche und ihre Amtsträger zu schützen auf Kosten der Opfer.
Das könnte längst vorbei sein. Längst könnten viel mehr Verantwortungsträger das nicht nur sagen, sondern auch die Konsequenzen daraus ziehen.
Längst könnten wir als Kirche mehr auf das Leid außerhalb und innerhalb der Kirchenmauern eingehen. Längst müssten wir konsequenter die Fehlbarkeit der Leitungspersonen beleuchten. Längst müsste (insbesondere Personal-)Verantwortung über kleine klerikale Cliquen hinaus aufgeteilt werden.
Und doch stehen wir anscheinend wieder an einem ähnlichen Punkt wie nach der MHG-Studie. Täter-Strategien und Vertuschungsmechanismen sind benannt und bekannt. Aber die Verantwortung diffundiert.
Es ist zum Verzweifeln: Wird sich je etwas grundsätzlich ändern in diesem scheinbar so krankhaft ineffizienten und schuldbeladenen System, wenn es um Schutz der Schwachen und Rechenschaft für die Täter geht?
Die Einlassungen der (früheren) Verantwortungsträger, die die Gutachter mitpubliziert haben, lassen nicht auf eine grundlegende Änderung hoffen...
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