Dienstag, 9. Januar 2018

Aus den Psalmen eines Heiden. Zu Uwe Kolbes Gedichtband "Psalmen"

Wenn ein Mensch, der sich explizit nicht zu Gott bekennt, Gedichte, oder vielmehr "Psalmen", an eben diesen Gott adressiert, dann verspricht das eine spannende Lektüre zu werden.
Und das ist es wirklich!
Ich gebe zu, vorher noch nichts von Uwe Kolbe gelesen zu haben, aber schon die wenigen Texte, die ich jetzt in diesem kleinen Büchlein intensiver angeschaut habe, rühren mich sehr an. Sie verströmen einen Hauch von biblischem Ernst, deuten immer wieder die alttestamentliche Bildsprache an und sprechen zugleich ganz individuell aus dem Herzen des Dichters.

Ein erster Versuch mit dem ersten Gedicht "Dein Morgen":

Aufblick aus neu umgegrabener Lyrik.
Goethes Gartenhaus, Weimar, 2017.
"Wo fange ich an
wohin mit den Augen,
den Blick aufzuheben

zu deinem Morgen
zu nehmen den Weg,
wo führt er mich hin,

hinaus aus der Irre?
Noch singe ich nicht,
ein Stammler der Liebe,

ich bitte dich, lasse
mich sehen den Weg
und singen dein Lied."1

Hier findet sich die Verdichtung vieler in anderen Texten noch folgender Motive und wieder aufgegriffener Ansätze sowie eine Vielzahl an biblischen Psalmtext-Andeutungen.
Ich höre dabei zum Beispiel "ich hebe meine Augen auf zu den Bergen: Woher kommt mir Hilfe?" (Ps 121,1) und erschrecke ein wenig beim nochmaligen Blick auf die ersten Zeilen, dass dem Dichter (wie wohl vielen Zeitgenossen) noch nicht einmal ein mögliches Ziel des Augenaufhebens sichtbar zu sein scheint.
Der dann zu Beginn der nächsten Strophe eingeführte "Morgen" findet sich prominent auch in Ps 57: "Mein Herz ist bereit, Gott, mein Herz ist bereit, ich will singen und spielen. Wach auf, meine Herrlichkeit! Wacht auf, Harfe und Leier! Ich will das Morgenrot wecken." (v8f) Während Kolbe kurz darauf betont, noch kein Singender zu sein, ist der biblische Sänger schon voller Enthusiasmus und Pathos dabei.
Das Wegmotiv der zweiten und dritten Strophe wiederum findet sich in vielen Psalmen, so auch im Ps 23: "Er führet mich auf rechter Straße" heißt es im dritten Vers. Bei Kolbe ist diese Gewissheit des Psalmisten noch eine Frage.
Und er endet schließlich mit einer Bitte. Schon dieses erste Text seiner Psalmen offenbart die Brüchigkeit und Unabgeschlossenheit des zugrundeliegenden Weltbildes. Zugleich spüre ich die sich ausstreckende Hoffnung und eine Ahnung dessen, was sich Gläubigen verschiedener Religionen in Gebet, Gottesdienst und Lektüre der Heiligen Schriften erschließen kann. Dieses ahnungsvolle Bewusstsein Gottes und seiner Weisung sucht Kolbe überzeugend in seinen Psalmdichtungen.

Das Modell Psalm dient ihm dabei als Inspiration und Ausgangspunkt dieser geistlichen Dichtungen. Im Vorwort stellt der Autor klar, dass er, in der DDR ohne Religion sozialisiert, erst beim Schreiben nach und nach herausfand, wie sehr sich die Frage nach der Mitte einer Lyrik stellt, die vom Größten sprechen will, ohne doch eine religiöse Fundierung zu haben. Und so nennt er sich und seine Texte "Psalmen eines Heiden, der Gott verpasste, weil keiner bei dem Kinde ging, der sagte, hörst du die Stimme?"2

Das ist anstößig für die Christen und sonstigen Bekenner einer Schriftreligion hierzulande, weil der Dichter ihren Gott immer wieder von der Seite anspricht – und dabei aus den alttestamentlichen Texten schöpft. Wobei die Frage, welchen Gott er tatsächlich vor Augen hat, natürlich auch einigermaßen offen bleibt.

Neuer Durchlick?
Blick auf die Ilm, Weimar, 2017.
 Die Literaturkritik im Netz, die ich überflogen habe, ist sich ebensowenig darüber klar, was dieser gläubige Ungläubige denn nun will – bekennen oder nicht bekennen, suchen oder aufgeben oder kritisieren... Man muss schon einen geistlichen Sensus haben, um zu verstehen, was der Dichter meint oder andeutet (sehr kritisch dazu beispielsweise hier). Das ist nicht selbstverständlich – und im Interview betont Kolbe: "Der selbstverständlich in der Mehrheitsgesellschaft vorausgesetzte Atheismus ödet mich an. Er schleppt die Fahne der Aufklärung mit sich, aber die ist vom leeren Herumzeigen leider entfärbt." Das ist provokativ und in der literarischen Landschaft Deutschlands sicher nicht oft zu hören.
Eine anstößige und anspruchsvolle Lektüre ist es also.

Und, das sei zugegeben, ohne die Psalmen vor Augen oder im Kopf zu haben, wird nicht immer klar, wovon er ausgeht oder was der Textgrund ist, auf den er sich bezieht.

Bei Kolbe beginnt zum Beispiel "Der 1. Psalm" so:

"Wo ist der Mann, der nicht wandelte im Rat der Gottlosen, der Sünder?
Gab es den Weg daneben, woher du mich lebtest, Herr, und wohin?"3

Im biblischen ersten Psalm dagegen heißt es (nach der revidierten Einheitsübersetzung):

"Selig der Mann, der nicht nach dem Rat der Frevler geht,
nicht auf dem Weg der Sünder steht, nicht im Kreis der Spötter sitzt,
sondern sein Gefallen hat an der Weisung des HERRN" (v1-2a)

Da ist in der "Neudichtung" keine moralische Höhe, aus der herab gesprochen wird, es ist nur das Bewusstsein göttlicher Begleitung und die realistische Einsicht in die menschlichen Fehlbarkeit. Sehr sympathisch eigentlich.

Ich finde dieses Spiel mit den alten Texten und das persönliche Weiterbeten, Weitersuchen, Weiterrufen äußerst faszinierend.
Eine geistliche Fundgrube, wenn man die religiöse Sehnsucht unserer Zeit auch ohne Kirchenlatein sucht und Menschen trifft, die auf einer geistlichen Suche sind ohne Religion so ohne Weiteres von innen kennenlernen konnten.
Heiße Empfehlung also! Und bei Gelegenheit werde ich hier sicher auch noch einmal darauf zurück kommen.
Oder doch schon jetzt, ein Gedicht, das viel von der Stimmung dieser Textsammlung aufnimmt, die tiefreligiöse und tief ehrlich suchende und zugleich anbetende "Rede aus Staub":

"Ich küsse den Staub, den deine Füße berührt haben.
Ich hoffe nicht, glaube nicht, rufe nur deinen Namen.
Ich küsse den Staub, den deine Füße berührt haben.
Ich wüsste gern ein oder aus, doch kommen nur Buchstaben.
Ich küsse den Staub, den deine Füße berührt haben.
Ich büße, des Sinns beraubt und aller schöneren Gaben.
Ich küsse den Staub, den deine Füße berührt haben.
Ich finde nur Schutt von dem Bau, den wir aufgeführt haben.
Ich küsse den Staub, den deine Füße berührt haben."4

Kein Staub, nirgends.
Stadtautobahn, Moabit, Berlin, 2017.

1   U. Kolbe, Psalmen. Frankfurt a.M. 2017, 11.
2   Ebd., 7f.
3   Ebd., 32.

4   Ebd., 66.