Wenn ein Mensch, der sich explizit
nicht zu Gott bekennt, Gedichte, oder vielmehr "Psalmen",
an eben diesen Gott adressiert, dann verspricht das eine spannende
Lektüre zu werden.
Und das ist es wirklich!
Ich gebe zu, vorher noch nichts von Uwe
Kolbe gelesen zu haben, aber schon die wenigen Texte, die ich jetzt
in diesem kleinen Büchlein intensiver angeschaut habe, rühren mich
sehr an. Sie verströmen einen Hauch von biblischem Ernst, deuten
immer wieder die alttestamentliche Bildsprache an und sprechen
zugleich ganz individuell aus dem Herzen des Dichters.
Ein erster Versuch mit dem ersten
Gedicht "Dein Morgen":
Aufblick aus neu umgegrabener Lyrik. Goethes Gartenhaus, Weimar, 2017. |
"Wo fange ich an
wohin mit den Augen,
den Blick aufzuheben
zu deinem Morgen
zu nehmen den Weg,
wo führt er mich hin,
hinaus aus der Irre?
Noch singe ich nicht,
ein Stammler der Liebe,
ich bitte dich, lasse
mich sehen den Weg
und singen dein Lied."1
Hier findet sich die Verdichtung vieler
in anderen Texten noch folgender Motive und wieder aufgegriffener
Ansätze sowie eine Vielzahl an biblischen Psalmtext-Andeutungen.
Ich höre dabei zum Beispiel "ich
hebe meine Augen auf zu den Bergen: Woher kommt mir Hilfe?"
(Ps 121,1) und erschrecke ein wenig beim nochmaligen Blick auf die
ersten Zeilen, dass dem Dichter (wie wohl vielen Zeitgenossen) noch
nicht einmal ein mögliches Ziel des Augenaufhebens sichtbar zu sein
scheint.
Der dann zu Beginn der nächsten
Strophe eingeführte "Morgen" findet sich prominent
auch in Ps 57: "Mein Herz ist bereit, Gott, mein Herz ist
bereit, ich will singen und spielen. Wach auf, meine Herrlichkeit!
Wacht auf, Harfe und Leier! Ich will das Morgenrot wecken."
(v8f) Während Kolbe kurz darauf betont, noch kein Singender zu sein,
ist der biblische Sänger schon voller Enthusiasmus und Pathos dabei.
Das Wegmotiv der zweiten und dritten
Strophe wiederum findet sich in vielen Psalmen, so auch im Ps 23: "Er
führet mich auf rechter Straße" heißt es im dritten Vers.
Bei Kolbe ist diese Gewissheit des Psalmisten noch eine Frage.
Und er endet schließlich mit einer
Bitte. Schon dieses erste Text seiner Psalmen offenbart die
Brüchigkeit und Unabgeschlossenheit des zugrundeliegenden
Weltbildes. Zugleich spüre ich die sich ausstreckende Hoffnung und
eine Ahnung dessen, was sich Gläubigen verschiedener Religionen in
Gebet, Gottesdienst und Lektüre der Heiligen Schriften erschließen
kann. Dieses ahnungsvolle Bewusstsein Gottes und seiner Weisung sucht
Kolbe überzeugend in seinen Psalmdichtungen.
Das Modell Psalm dient ihm dabei als
Inspiration und Ausgangspunkt dieser geistlichen Dichtungen. Im
Vorwort stellt der Autor klar, dass er, in der DDR ohne Religion
sozialisiert, erst beim Schreiben nach und nach herausfand, wie sehr
sich die Frage nach der Mitte einer Lyrik stellt, die vom Größten
sprechen will, ohne doch eine religiöse Fundierung zu haben. Und so
nennt er sich und seine Texte "Psalmen eines Heiden, der Gott
verpasste, weil keiner bei dem Kinde ging, der sagte, hörst du die
Stimme?"2
Das ist anstößig für die Christen
und sonstigen Bekenner einer Schriftreligion hierzulande, weil der
Dichter ihren Gott immer wieder von der Seite anspricht – und dabei
aus den alttestamentlichen Texten schöpft. Wobei die Frage, welchen
Gott er tatsächlich vor Augen hat, natürlich auch einigermaßen
offen bleibt.
Neuer Durchlick? Blick auf die Ilm, Weimar, 2017. |
Die Literaturkritik im Netz, die ich
überflogen habe, ist sich ebensowenig darüber klar, was dieser
gläubige Ungläubige denn nun will – bekennen oder nicht bekennen,
suchen oder aufgeben oder kritisieren... Man muss schon einen
geistlichen Sensus haben, um zu verstehen, was der Dichter meint oder
andeutet (sehr kritisch dazu beispielsweise hier).
Das ist nicht selbstverständlich – und im Interview
betont Kolbe: "Der selbstverständlich in der
Mehrheitsgesellschaft vorausgesetzte Atheismus ödet mich an. Er
schleppt die Fahne der Aufklärung mit sich, aber die ist vom leeren
Herumzeigen leider entfärbt." Das ist provokativ und in der
literarischen Landschaft Deutschlands sicher nicht oft zu hören.
Eine anstößige und anspruchsvolle
Lektüre ist es also.
Und, das sei zugegeben, ohne die
Psalmen vor Augen oder im Kopf zu haben, wird nicht immer klar, wovon
er ausgeht oder was der Textgrund ist, auf den er sich bezieht.
Bei Kolbe beginnt zum Beispiel "Der
1. Psalm" so:
"Wo ist der Mann, der nicht
wandelte im Rat der Gottlosen, der Sünder?
Gab es den Weg daneben, woher du
mich lebtest, Herr, und wohin?"3
Im biblischen ersten Psalm dagegen
heißt es (nach der revidierten Einheitsübersetzung):
"Selig der Mann, der nicht nach
dem Rat der Frevler geht,
nicht auf dem Weg der Sünder steht, nicht im Kreis der Spötter sitzt,
nicht auf dem Weg der Sünder steht, nicht im Kreis der Spötter sitzt,
sondern sein Gefallen hat an der
Weisung des HERRN" (v1-2a)
Da ist in der "Neudichtung"
keine moralische Höhe, aus der herab gesprochen wird, es ist nur das
Bewusstsein göttlicher Begleitung und die realistische Einsicht in
die menschlichen Fehlbarkeit. Sehr sympathisch eigentlich.
Ich finde dieses Spiel mit den alten
Texten und das persönliche Weiterbeten, Weitersuchen, Weiterrufen
äußerst faszinierend.
Eine geistliche Fundgrube, wenn man die
religiöse Sehnsucht unserer Zeit auch ohne Kirchenlatein sucht und
Menschen trifft, die auf einer geistlichen Suche sind ohne Religion
so ohne Weiteres von innen kennenlernen konnten.
Heiße Empfehlung also! Und bei
Gelegenheit werde ich hier sicher auch noch einmal darauf zurück
kommen.
Oder doch schon jetzt, ein Gedicht, das
viel von der Stimmung dieser Textsammlung aufnimmt, die tiefreligiöse
und tief ehrlich suchende und zugleich anbetende "Rede aus
Staub":
"Ich küsse den Staub, den
deine Füße berührt haben.
Ich hoffe nicht, glaube nicht, rufe
nur deinen Namen.
Ich küsse den Staub, den deine Füße
berührt haben.
Ich wüsste gern ein oder aus, doch
kommen nur Buchstaben.
Ich küsse den Staub, den deine Füße
berührt haben.
Ich büße, des Sinns beraubt und
aller schöneren Gaben.
Ich küsse den Staub, den deine Füße
berührt haben.
Ich finde nur Schutt von dem Bau,
den wir aufgeführt haben.
Ich küsse den Staub, den deine Füße
berührt haben."4
Kein Staub, nirgends. Stadtautobahn, Moabit, Berlin, 2017. |
1 U.
Kolbe, Psalmen. Frankfurt a.M. 2017, 11.
2 Ebd.,
7f.
3 Ebd.,
32.