Wenn ich an die Opfer der NS-Diktatur
denke, dann in den meisten Fällen an die Überlebenden. Sie, die
Zeitzeugen, die inzwischen Uralten, die Gezeichneten, die mit
Überleben Beschenkten oder Gestraften, sie können sagen und zeigen,
wie es war und wie es danach ist.
Das hat auch mit meinem
Freiwilligendienst in der Ukraine zu tun, als ich 2001/2002 einige
Überlebende in Lemberg besucht habe.
Diese Überlebenden tragen ihre
Gewalterfahrungen über Jahrzehnte mit sich herum. Manche ertragen
sie mit Alpträumen, andere mit Schweigen, wieder anderen hilft es,
mit sehr vielen Worten zu erzählen und persönlich Zeugnis
abzulegen.
Und nicht wenige reagieren auf die
Gewalterfahrungen mit Härte und eigener Gewalt.
Schornstein. Grünheide, 2017. |
Das schreibe ich nicht, um sie zu
diskreditieren, sondern um ins Gedächtnis zu rufen, dass sehr viele
Menschen, die Gewalt erlitten haben, auch Kriegsversehrte,
Missbrauchsopfer und Geflüchtete, die erlittene Gewalt nur durch
eigene Gewalt kompensieren können. Im Strafvollzug und beim Thema
sexueller Gewalt an Minderjährigen ist dieser teuflische Kreislauf
seit Jahren bekannt.
Und hier wie dort ist (bei aller
Eigenverantwortung) klar: Es war ursächlich die erlebte Gewalt, die
nun Gewalt auslöst. Eine perfide Erfahrung.
Ein fiktional erzähltes Beispiel fand
ich gerade in der Lektüre von "Ikarien", dem
letzten Roman von Uwe Timm. Der deutsch-amerikanische US-Offizier
Hansen beschreibt in einem Tagebucheintrag seine Eindrücke aus dem
zerstörten Deutschland:
"17. August [1945]
... Fremdarbeiter, displaced
persons, die immer noch durch das Land ziehen und sich jetzt nach
Monaten oder gar Jahren des Hungers und der Drangsalierung einfach
das holen, was ihnen fehlt. Man könnte es Plündern nennen, wüsste
man nicht von ihrer Vergangenheit, in der sie in Lumpen gehen
mussten. Eine Heerschar, die ruhelos von Ost nach West und von West
nach Ost zieht. ...
Die über Jahre Erniedrigten zeigen
oft eine brutale Ruppigkeit – auch untereinander."1
Der Text an sich ist nicht sonderlich
bemerkenswert.
Aber er zeigt doch im Gewand des Romans
diese im Lager angelernte Unfähigkeit, sich gegenseitig als
achtenswertes Geschöpf, sich gegenseitig als Mitmensch anerkennen zu
können.
Und natürlich enthemmt Gewalt zu immer
mehr Gewalt und kann schließlich zu einem Götzen werden. Dieser
Götze ist die unbeschränkte Macht über den Mitmenschen, wie er
sich auch bei den Befreiten ausbreiten konnte, wenn sie ihre
ehemaligen Peiniger nach der Befreiung wiedertrafen.
Davon berichtet sehr anschaulich
Tadeusz Sobolewicz, ehemaliger Häftling in Auschwitz, Buchenwald und
anderen KZ in seinen Erinnerungen "Aus der Hölle zurück".
Als er nach der Befreiung bei
Regensburg auf ebenjenem Weg durch Europa ist, der oben im Roman
beschrieben wird, begegnet er einer anderen Gruppe, die einen
ehemaligen SS-Scharführer gefangen genommen hat und schon eine
geraume Zeit malträtierten. Ich erspare mir die Einzelheiten der
detaillierten Beschreibung und zitiere nur den Eindruck von
Sobolewicz:
"Ich hatte im Lager
entsetzliche Dinge gesehen, und ich hatte geglaubt, ich sei immun
dagegen. Doch als ich diese Überreste eines menschlichen Wesens
erblickte, bekam ich eine Gänsehaut. Er hatte am ganzen Leibe keinen
einzigen weißen, unversehrten Fetzen Haut."
Im Keller. Bad Freienwalde, 2014. |
Als sein Begleiter diesen ehemaligen
Peiniger erschießen will, versperren die jetzigen Peiniger ihm den
Weg mit der Begründung:
"Hier ist kein Mitleid am
Platz! Dieser elende Hund hat zwei tage vor der Befreiung meinen
alten Vater umgebracht. Meine Mutter und meine Schwester haben die
Halunken in Auschwitz verbrannt. Dieser da muß für all das büßen!"
Auf diese verallgemeinernden Gründe
des Gewaltexzesses kreisen dem Autor die folgerichtigen, moralisch
gebotenen Fragen im Kopf: "Mußten wir deshalb, weil man uns
gepeinigt und geschlagen wurde, mußten wir deshalb dasselbe tun?"2
Das ist die reflektierende, nicht die
reflexhafte Reaktion. Eine Reaktion, die Abstand gefunden hat und
nicht mehr der Hölle verhaftet ist.
Aber tatsächlich kann man, den Titel
seines Buches aufnehmend, fragen:
Wie sollte, wer aus der Hölle kommt,
die Manieren des Himmels geübt haben?
Dieses Fragen ist keine Entschuldigung
für alles, aber es kann verstehen helfen.
Wenn man denn verstehen möchte. Auch
heute: Wie sollen junge Männer, die aus der Hölle eines Krieges in
Syrien kommen, auf einmal frei sein von der Hilflosigkeit, die Gewalt
gebiert, von der Angst, die mit Gewalt zurückgeschlagen werden soll,
von der frustrierenden Perspektivlosigkeit in der Fremde, die aus
eigener körperlicher Stärke Selbstwert machen will, von all dem,
was Gewalt fördert und hervorbringt?
Doch zum Glück geht der 27. Januar
ursprünglich auf die Befreiung der überlebenden KZ-Häftlinge von
Auschwitz zurück. Und Befreiung, äußere wie innere, sollte das
bleibende Motiv des Gedenkens an die Opfer des Holocaust sein. Das
ist der Kern der moralisch noblen Reaktion von Tadeusz Sobolewicz,
dass sie sich innerlich von der Gewalt befreien konnte. Er lebte die Auferstehung aus der Gewalt-Hölle von Auschwitz.
Es geht bei diesem Gedenken um die
Toten. Aber auch um Befreiung von der lebensvergiftenden Angst und um
die Befreiung vom Zurückfallen in die Muster der Gewalt. Es geht auch um die Stärkung der Widerstandskraft gegen die Gewalt.
Licht ist oben. Gedenkkirche Maria Regina Martyrum, Berlin, 2017. |
1 U.
Timm, Ikarien. Köln 2017, 376.
2 T.
Sobolewicz, Aus der Hölle zurück. Von der Willkür des Überlebens
im Konzentrationslager. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 2000, 253.