Samstag, 4. Juli 2020

"Kommt alle zu mir!" Jesus und die Kirchenaustrittszahlen.

In den letzten Tagen haben die hohen Kirchenaustrittszahlen von 2019 für einen Schock in der kirchlichen (Medien-)Landschaft gesorgt. 
270000 Menschen sind allein im letzten, an kirchlichen Skandalen immerhin nicht besonders reichen Jahr, aus der katholischen Kirche ausgetreten. Ebenso viele aus der evangelischen. Dass es so viele waren, erschreckt manche bis ins Mark: Sind wir so wenig einladend?

Ich persönlich glaube, dass sich da nur etwas deutlich zeigt, was bei den meisten der Menschen innerlich sowieso schon passiert war: Es ist die Abwendung von einer Institution, der man (jedenfalls im Westen Deutschlands) lange Zeit qua "normaler" Sozialisation angehörte. Ohne eigenen Entschluss. Bei Wegzug aus dem heimatlichen Umfeld fiel der Kontakt zur Kirche oft auch weg. Eine Art individueller Selbstaufklärung. Religion war schon lange irrelevant.

Ist die Darstellung dieser bislang verborgenen Realität in sichtbaren Austritten nun etwas schlechtes? Ich glaube nicht. Es ist eine Offenlegung.

Leere Stühle, leere Mitte.
Neukölln, 2020.
Wer die Kirche sonst nicht betreten hat, der würde auch mit einem Hyper-Reformpapst, einem bahnbrechend demokratischen Synodalen Weg oder grundlegenden Reformen nicht mehr erreicht werden. 
Der Kern der Kirche nämlich ist der Glaube – und wenn der verschwunden ist, wie es viele der Ausgetretenen angeben, dann hält auch die menschenfreundlichste Institution niemanden mehr auf Dauer.

Vor diesem Hintergrund hören wir verbliebenen Kirchgängerinnen oder Blogleser nun Jesu Einladung im Sonntagsevangelium (Mt 11,25-30):

"Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid! Ich will euch erquicken." (v28)

Wenn sie nun aber nicht kommen, sondern gehen? Dann gilt die Einladung trotzdem.

Ich komme aus der ehemaligen DDR. Hier waren Christen immer in der absoluten Minderheit (einzelne Enklaven ausgenommen). Die so lange Beladenen, die Christen geblieben waren, haben die Kirchen nach der Wende nur noch schneller verlassen.
Meine berufliche Erfahrung in der Gefängnisseelsorge ist von Menschen geprägt, die in ihrem Leben vor der Inhaftierung fast nie etwas mit Kirche zu tun hatten. Oder die nur während ihrer verschiedenen Haftzeiten mal Kontakt mit einem Kirchenvertreter aufgenommen haben. (Die wenigen Katholiken sprechen oft andere Sprachen oder wollen mit mir / der Kirche nichts zu tun haben.)
Wenn ich also predige, dann predige ich in der Regel nicht vor einem katholischen Publikum. Und trotzdem würde ich diesen Satz dort mit vollem Ernst aussprechen.

Denn auch wer nie Kontakt mit der Kirche hatte oder wer von ihr enttäuscht ist; wer ihr den Rücken gekehrt hat oder wer nie gelernt hat, persönlichen Kontakt mit Gott aufzunehmen; wer keinen Platz für Gott hat in seinem Leben – jeder Mensch ist eingeladen, sich neu erquicken zu lassen.
Und es muss ihm immer wieder angeboten werden, auch wenn die Kirche die Botschaft von Jesus und seinen Lebensstil vielfach nicht überzeugend ausstrahlen kann.

Keiner muss, jeder kann.
Für manche wird diese Einladung vielleicht irgendwann einmal nach einem Kirchenaustritt wichtig, für andere eventuell bei einer Inhaftierung, für wieder andere niemals wirklich.
Und was daraus folgt, wenn einer diese Einladung Jesu hört, ist auch wieder sehr offen. Die alte Diskussion um "Jesus ja – Kirche nein", die sich hier anschließen könnte, mag ich gar nicht eröffnen.

Aber ich vertraue darauf: Gott findet seine Wege, um uns zu erquicken – verborgen oder offen, in der Kirche oder außerhalb.

Erquickung naht.
Usedom, 2020.


1 Kommentar:

  1. Das ist scön gesagt, lieber Kollegen, und kommt auch ehrlich rüber. Dennoch: https://dierkschaefer.wordpress.com/2020/05/05/die-kirche-braucht-hilfe-um-wieder-ehrlich-zu-werden/

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