Freitag, 2. August 2019

Gier bis zum Tod und über den Tod hinaus. George Saunders und das Evangelium

Wer sich nur über seinen Besitz definiert, wird von Kritikern des Materialismus gern als armer Tropf angesehen. So gesehen bei Jesus im Evangelium des Sonntags (Lk 12,13-21), in dem er die Sorge des reichen Mannes um seinen Besitz geißelt.

Doch wie weit reicht die menschliche Gier?
Während die Pointe in Jesu Gleichnis des Reichen Tod ist, mit dem alles verloren geht, stellt George Saunders mit seinem Buch "Lincoln im Bardo"1 eine weitergehende Phantasie vor.
Auf dem Gelände eines Friedhofs treffen sich die Geister der Toten und führen ein ruheloses Zwischendasein. Allerdings ist ihnen, im Gegensatz zu vielen anderen untoten Geistern in Literatur und Film nicht klar, dass sie eigentlich schon gestorben sind. Umhergeistern können sie nur, weil sie sich an die Hoffnung einer Rückkehr in jene "vormalige Welt" klammern.

Lichter für die Toten.
Rusinowo, 2019.
Sie können sich ihren Tod nicht eingestehen und machen sich vor, dass ein großes Missverständnis vorliegen würde und sie nur einstweilen in einer "Kranken-Kiste" zu liegen hätten, um sich zu erholen.2
Jede dieser Gestalten klammert sich aus einem anderen Grund an das vergangene Leben. Abraham Lincolns elfjährig an Typhus verstorbener Sohn Willie, um dessen Schicksal das Buch weiträumig kreist, möchte seinen Vater noch einmal sehen, der versprochen hat, ihn auf dem Friedhof zu besuchen. Andere wollen in ihrem alten Leben noch Schulden eintreiben oder sich an jemandem rächen.
Oder aber sich um ihren Besitz kümmern. Mr. Collier beispielsweise stellt sich und sein Leben in einem (natürlich an Jesu reichen Mann erinnernden) Endlossatz so vor:

"Wenn man vier Häuser besitzt und über fünfzehn Vollzeitgärtner verfügt, die einem die sieben Gärten und acht künstlich angelegten Bäche in perfektem Zustand halten, so wird man zwangsläufig erklecklich viel Zeit damit zubringen, von einem Hause zum anderen zu eilen und von einem Garten zum nächsten, und so wird es möglicherweise nicht überraschen, dass man sich eines Nachmittags, als man flugs nach dem Voranschreiten des Abendessens schauen will, das einem der Koch gerade für den Vorstand der bevorzugten Wohltätigkeitseinrichtung zubereitet, mit einem Mal genötigt sieht, sich ein wenig zu erholen, zu diesem Zwecke kurz auf ein Knie zu gehen, dann auf beide, dann plötzlich vornüber auf sein Gesicht zu fallen und, als man sich außerstande sieht, wieder aufzustehen, nun hier nach einem etwas längeren Moment der Erholung zu trachten, nur um festzustellen, dass dieser sich ganz und gar nicht erholsam gestaltet, da man, während man sich dem Anschein nach erholt, vielmehr ohne Unterlass über seine Kutschen, Gärten, Möbel, Häuser et al. nachgrübelt, die (wie man hofft) geduldig der eigenen Rückkehr harren und nicht (da sei der Himmel vor) in die Hände eines (achtlosen, ruchlosen, unwürdigen) anderen fallen."3

So muss das Fegefeuer wirklich aussehen: Nach dem eigenen Tod wie in einem bösen Traum keine Ruhe zu finden und vielmehr seinem Besitz weiterhin ohne Unterlass gedanklich ergeben zu sein.

Doch wie man sich bettet, so liegt man, wie man lebt, so stirbt man. Jesu Gleichnis ermahnt deshalb zur Befreiung vom ewigen Kreisen um den liebgewonnen Besitz, während Saunders zur Versöhnung mit der Realität aufruft.


P.S. Das Buch ist ein dramatisch inszeniertes und hochintensives Leseerlebnis und dabei eine Einladung, über viele Momente des Lebens und des Nachlebens noch einmal nachzusinnen. Große Empfehlung!

Wohnstätten von Lebenden und Toten, wohlsortiert.
Kirchmöser, 2017.

1   G. Saunders, Lincoln im Bardo. 3. Aufl. München 2018.

2   In einer Szene, die sehr an C.S. Lewis' "Die große Scheidung" erinnert, wollen vorausgegangene Bekannte diese Zwischengeister überzeugen, doch zu einer Entscheidung zu gelangen und den Friedhof zu verlassen. Doch jeder der Geister findet Ausflüchte, sich nicht mitnehmen zu lassen.


3   A.a.O., 165f.