"Ich sehe zum
verfallenen Haus meiner Urgroßeltern, ich verstehe so vieles nicht.
Nicht, wie das Knie funktioniert. Ernsthaft religiöse Menschen so
wenig wie Menschen, die Geld und Hoffnung in Magie, Wettbüros,
Globuli oder Hellseherei (außer Nena Mejrema) setzen. Ich verstehe
das Beharren auf dem Prinzip der Nation nicht und Menschen, die süßes
Popcorn mögen. Ich verstehe nicht, dass Herkunft Eigenschaften mit
sich bringen soll, und verstehe nicht, dass manche bereit sind, in
ihrem Namen in Schlachten zu ziehen. Ich verstehe Menschen nicht, die
glauben, sie könnten an zwei Orten gleichzeitig sein (falls das aber
wirklich jemand kann, möchte ich es gern lernen)."1
So schreibt Saša Stanišić
in seinem preisgekrönten Buch "Herkunft" von seiner
Skepsis gegenüber bestimmten Vorstellungen von Abstammung und
Herkunft. Ihn scheint das Fluide und nicht Festgelegte mehr zu
faszinieren und zu überzeugen. Und ich muss sagen, dass ich mir viel
von dieser Skepsis einerseits und Faszination andererseits zu eigen
machen kann. Wenn auch nicht alles.
Hin und Her. Wildau, 2019. |
Vielleicht liegt es an der
Herkunft aus einem Land,
das nicht mehr existiert und über das zu sprechen oder schreiben
schon aus diesem Grund schwierig ist. Neue Orientierung zu finden und
die Sprache derer zu lernen, die alles das Neue schon ewig kennen,
ist dann eine Herausforderung. Dazu mag auch eine gewisse Skepsis
gegenüber bestimmten, den Anderen ganz selbstverständlich
scheinenden Phänomenen treten.
"Es ist so: Das
Land, in dem ich geboren wurde, gibt es heute nicht mehr. Solange es
das Land noch gab, begriff ich mich als Jugoslawe. Wie meine Eltern,
die aus einer serbischen (Vater) bzw. einer bosniakisch-muslimischen
Familie stammten (Mutter). Ich war ein Kind des Vielvölkerstaats,
Ertrag und Bekenntnis zweier einander zugeneigter Menschen, die der
jugoslawische Melting Pot befreit hatte von den Zwängen
unterschiedlicher Herkunft und Religion."2
Ja, die Lösung von alten
Banden kann wirklich eine Befreiung sein!
Aber genauso wie der Autor
im besagten (von allen Gattungsgrenzen ebenfalls befreiten) Buch nach
seiner Herkunft sucht, so bestimmt die Sehnsucht, die (eigenen)
Wurzeln zu kennen, das Leben vieler Menschen.
Das Evangelium des
3.
Sonntags im Jahreskreis (Mt 4,12-23) wirft zu Beginn einen Blick
auf die Herkunft Jesu. Um ihn zu verstehen, ist das sicher nicht
unwichtig.
Jesu Herkunft war ja
auch schon in den Ahnentafeln (z.B. Mt 1,1-17), in der Verkündigung
des Engels an Maria (Lk 1,26-38) und im Prolog des
Johannesevangeliums (Joh 1,1-18) aus ganz unterschiedlichen
Perspektiven thematisiert worden. Die Verankerung
in der Geschichte Israels und Gottes Neuansatz mit Maria (ohne
Josef?!) und die Perspektive auf Jesus als das ewige Wort des
Vaters reißen riesige Horizonte auf.
Im vorliegenden Text geht
es zunächst um Orte.
Darum lässt der
Evangelist Jesus (aus der judäischen Wüste mit der Taufe und den
Versuchungen) nach Galiläa zurückkehren (v12). Gleich darauf heißt
es schon: "Er verließ Nazaret, um in Kafarnaum zu wohnen"
(v13a).
Bevor es so richtig
losgeht, muss Jesus also erst einmal viel unterwegs sein. Und wie
sich an der Literatur von Saša Stanišić zeigt, können
Abschiednehmen und Neuanfangen ungeheuer produktiv wirken.
Gediegene Unterkunft. Baasem, 2013. |
Auch Jesus scheint nicht
ganz freiwillig wieder nach Galiläa gekommen zu sein, da er dies
tat, nachdem er hörte, "dass Johannes ausgeliefert worden
war" (v12). Augenscheinlich war ihm nicht daran gelegen,
gleich zu Beginn seines Wirkens als (vermeintlicher) Johannesjünger
in Mithaftung genommen zu werden. Kurz: Jesus floh aus Angst vor
Herodes zurück in die alte Heimat.
Doch sein Tun entfremdet
ihn denen, die ihm nahestehen. So wenig wie die weiterhin in
Bosnien-Herzegowina lebende Verwandtschaft den auf deutsch
schreibenden Schriftsteller Stanišić aus Višegrad und Heidelberg
wirklich verstehen kann, als er in das Dorf seiner Vorfahren
zurückkehrt, so wenig können die Verwandten Jesu nachvollziehen,
was er da tut und versuchen, ihn vor seiner religiösen Karriere zu
retten, „denn sie sagten: Er ist von Sinnen.“ (Mk 3,21)
Die eigene Herkunft zerrt
manchmal an einem und manchmal wird man von ihr sogar überfallen.
„Bevor ich den
Friedhof von Oskoruša sah, hatte ich mir aus Herkunft im Sinne
familiärer Abstammung nichts gemacht. Meine Großeltern waren
einfach da. Den einen Großvater gab es noch, den anderen nicht mehr.
…
Dann las ich aber auf
dem Friedhof von Oskoruša meinen Nachnamen auf jedem zweiten
Grabstein. Und habe mir aus dem, was mit Herkunft zu tun hatte, aus
meiner unbekannten Verwandtschaft und meinen bekannten Orten, gleich
mal mehr gemacht. Aus dem, was vergangen war in dem vermeintlich
vertrauten Višegrad, und auch aus dem, was ich durch das anfänglich
fremde Heidelberg gewonnen hatte.“3
Orte ändern ihre
Bedeutung, Familie ändert ihre Bedeutung.
Auch ich persönlich
beginne erst seit ein paar Jahren richtig, meine Herkunftsfamilie zu
entdecken; vor zehn Jahren beispielsweise hatte ich mehr mit mir und
meinem eigenen Weg (u.a. in den Orden und wieder hinaus) zu tun. Nun
schaue ich auf meine Kinder (und alles, was an positiven und
negativen Gefühlen mit ihnen zusammenhängt) und frage mich, woher
sie das wohl haben. Wie meine Eltern mit mir in diesen oder jenen
Situationen umgegangen sein mögen? Ob es schon immer so
kräftezehrend war... Und so weiter.
Jesus hatte wahrscheinlich
keine Kinder und ist immerhin sieben
Jahre jünger gestorben als ich es jetzt bin. Auch war ihm seine
Herkunft aus Galiläa und aus dem Judentum klarer als dem religiös
indifferenten und ethnisch sensibel-kritischen Saša Stanišić.
Doch die Frage nach seiner
Herkunft war immerhin denen wichtig, die über Jesus schrieben.
Bisweilen sagt es eben
schon etwas aus, ob jemand aus der Peripherie oder dem Zentrum, aus
der Ferne oder aus der Nähe, aus dem eigenen Stall oder aus einer
anderen Welt kommt, aus einer problematischen oder einer heiligen
Familie.
Als denkender und
religiöser Mensch glaube ich von Jesus immer beides. Das macht ihn
so stark.
Von Saša Stanišić nehme
ich die Aufmerksamkeit für die Fragen von Freiheit und Bindung
bezüglich der eigenen Herkunft mit. Sich Rückbinden und sich
Hinauswerfen gehören wohl oft genug zusammen.
Auch das lässt sich bei
Jesus, dem großen Grenzüberschreiter, beobachten.
Freischwebend?! Treptower Park, Berlin, 2019. |
1 S.
Stanišić, Herkunft. 10. Aufl. München 2019, 284.
2 Ebd.,
13f.
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