Samstag, 25. Januar 2020

Kafarnaum und Višegrad. Herkunft bei Jesus und Saša Stanišić

"Ich sehe zum verfallenen Haus meiner Urgroßeltern, ich verstehe so vieles nicht. Nicht, wie das Knie funktioniert. Ernsthaft religiöse Menschen so wenig wie Menschen, die Geld und Hoffnung in Magie, Wettbüros, Globuli oder Hellseherei (außer Nena Mejrema) setzen. Ich verstehe das Beharren auf dem Prinzip der Nation nicht und Menschen, die süßes Popcorn mögen. Ich verstehe nicht, dass Herkunft Eigenschaften mit sich bringen soll, und verstehe nicht, dass manche bereit sind, in ihrem Namen in Schlachten zu ziehen. Ich verstehe Menschen nicht, die glauben, sie könnten an zwei Orten gleichzeitig sein (falls das aber wirklich jemand kann, möchte ich es gern lernen)."1

So schreibt Saša Stanišić in seinem preisgekrönten Buch "Herkunft" von seiner Skepsis gegenüber bestimmten Vorstellungen von Abstammung und Herkunft. Ihn scheint das Fluide und nicht Festgelegte mehr zu faszinieren und zu überzeugen. Und ich muss sagen, dass ich mir viel von dieser Skepsis einerseits und Faszination andererseits zu eigen machen kann. Wenn auch nicht alles.

Hin und Her.
Wildau, 2019.
Vielleicht liegt es an der Herkunft aus einem Land, das nicht mehr existiert und über das zu sprechen oder schreiben schon aus diesem Grund schwierig ist. Neue Orientierung zu finden und die Sprache derer zu lernen, die alles das Neue schon ewig kennen, ist dann eine Herausforderung. Dazu mag auch eine gewisse Skepsis gegenüber bestimmten, den Anderen ganz selbstverständlich scheinenden Phänomenen treten.

"Es ist so: Das Land, in dem ich geboren wurde, gibt es heute nicht mehr. Solange es das Land noch gab, begriff ich mich als Jugoslawe. Wie meine Eltern, die aus einer serbischen (Vater) bzw. einer bosniakisch-muslimischen Familie stammten (Mutter). Ich war ein Kind des Vielvölkerstaats, Ertrag und Bekenntnis zweier einander zugeneigter Menschen, die der jugoslawische Melting Pot befreit hatte von den Zwängen unterschiedlicher Herkunft und Religion."2

Ja, die Lösung von alten Banden kann wirklich eine Befreiung sein!
Aber genauso wie der Autor im besagten (von allen Gattungsgrenzen ebenfalls befreiten) Buch nach seiner Herkunft sucht, so bestimmt die Sehnsucht, die (eigenen) Wurzeln zu kennen, das Leben vieler Menschen.

Das Evangelium des 3. Sonntags im Jahreskreis (Mt 4,12-23) wirft zu Beginn einen Blick auf die Herkunft Jesu. Um ihn zu verstehen, ist das sicher nicht unwichtig.
Jesu Herkunft war ja auch schon in den Ahnentafeln (z.B. Mt 1,1-17), in der Verkündigung des Engels an Maria (Lk 1,26-38) und im Prolog des Johannesevangeliums (Joh 1,1-18) aus ganz unterschiedlichen Perspektiven thematisiert worden. Die Verankerung in der Geschichte Israels und Gottes Neuansatz mit Maria (ohne Josef?!) und die Perspektive auf Jesus als das ewige Wort des Vaters reißen riesige Horizonte auf.

Im vorliegenden Text geht es zunächst um Orte.
Darum lässt der Evangelist Jesus (aus der judäischen Wüste mit der Taufe und den Versuchungen) nach Galiläa zurückkehren (v12). Gleich darauf heißt es schon: "Er verließ Nazaret, um in Kafarnaum zu wohnen" (v13a).
Bevor es so richtig losgeht, muss Jesus also erst einmal viel unterwegs sein. Und wie sich an der Literatur von Saša Stanišić zeigt, können Abschiednehmen und Neuanfangen ungeheuer produktiv wirken.
Gediegene Unterkunft.
Baasem, 2013.
Auch Jesus scheint nicht ganz freiwillig wieder nach Galiläa gekommen zu sein, da er dies tat, nachdem er hörte, "dass Johannes ausgeliefert worden war" (v12). Augenscheinlich war ihm nicht daran gelegen, gleich zu Beginn seines Wirkens als (vermeintlicher) Johannesjünger in Mithaftung genommen zu werden. Kurz: Jesus floh aus Angst vor Herodes zurück in die alte Heimat.

Doch sein Tun entfremdet ihn denen, die ihm nahestehen. So wenig wie die weiterhin in Bosnien-Herzegowina lebende Verwandtschaft den auf deutsch schreibenden Schriftsteller Stanišić aus Višegrad und Heidelberg wirklich verstehen kann, als er in das Dorf seiner Vorfahren zurückkehrt, so wenig können die Verwandten Jesu nachvollziehen, was er da tut und versuchen, ihn vor seiner religiösen Karriere zu retten, „denn sie sagten: Er ist von Sinnen.“ (Mk 3,21)

Die eigene Herkunft zerrt manchmal an einem und manchmal wird man von ihr sogar überfallen.

Bevor ich den Friedhof von Oskoruša sah, hatte ich mir aus Herkunft im Sinne familiärer Abstammung nichts gemacht. Meine Großeltern waren einfach da. Den einen Großvater gab es noch, den anderen nicht mehr. …
Dann las ich aber auf dem Friedhof von Oskoruša meinen Nachnamen auf jedem zweiten Grabstein. Und habe mir aus dem, was mit Herkunft zu tun hatte, aus meiner unbekannten Verwandtschaft und meinen bekannten Orten, gleich mal mehr gemacht. Aus dem, was vergangen war in dem vermeintlich vertrauten Višegrad, und auch aus dem, was ich durch das anfänglich fremde Heidelberg gewonnen hatte.3

Orte ändern ihre Bedeutung, Familie ändert ihre Bedeutung.
Auch ich persönlich beginne erst seit ein paar Jahren richtig, meine Herkunftsfamilie zu entdecken; vor zehn Jahren beispielsweise hatte ich mehr mit mir und meinem eigenen Weg (u.a. in den Orden und wieder hinaus) zu tun. Nun schaue ich auf meine Kinder (und alles, was an positiven und negativen Gefühlen mit ihnen zusammenhängt) und frage mich, woher sie das wohl haben. Wie meine Eltern mit mir in diesen oder jenen Situationen umgegangen sein mögen? Ob es schon immer so kräftezehrend war... Und so weiter.

Jesus hatte wahrscheinlich keine Kinder und ist immerhin sieben Jahre jünger gestorben als ich es jetzt bin. Auch war ihm seine Herkunft aus Galiläa und aus dem Judentum klarer als dem religiös indifferenten und ethnisch sensibel-kritischen Saša Stanišić.
Doch die Frage nach seiner Herkunft war immerhin denen wichtig, die über Jesus schrieben.

Bisweilen sagt es eben schon etwas aus, ob jemand aus der Peripherie oder dem Zentrum, aus der Ferne oder aus der Nähe, aus dem eigenen Stall oder aus einer anderen Welt kommt, aus einer problematischen oder einer heiligen Familie.
Als denkender und religiöser Mensch glaube ich von Jesus immer beides. Das macht ihn so stark.

Von Saša Stanišić nehme ich die Aufmerksamkeit für die Fragen von Freiheit und Bindung bezüglich der eigenen Herkunft mit. Sich Rückbinden und sich Hinauswerfen gehören wohl oft genug zusammen.
Auch das lässt sich bei Jesus, dem großen Grenzüberschreiter, beobachten. 


Freischwebend?!
Treptower Park, Berlin, 2019.


1   S. Stanišić, Herkunft. 10. Aufl. München 2019, 284.

2   Ebd., 13f.


3   Ebd., 62.63.

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