Biblischer
Text für den Semesterschlussgottesdienst in der Ausstellung „Wo
liegt eigentlich dieses Ostdeutschland?“ in der Friedenskirche
Frankfurt (Oder):
Alles
hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine
bestimmte Zeit: eine Zeit zum Gebären / und eine Zeit zum Sterben,
/ eine Zeit zum Pflanzen / und eine Zeit zum Ausreißen der
Pflanzen, eine Zeit zum Töten / und eine Zeit zum Heilen, / eine
Zeit zum Niederreißen / und eine Zeit zum Bauen, eine Zeit zum
Weinen / und eine Zeit zum Lachen, / eine Zeit für die Klage / und
eine Zeit für den Tanz; eine Zeit zum Steinewerfen / und eine Zeit
zum Steinesammeln, / eine Zeit zum Umarmen / und eine Zeit, die
Umarmung zu lösen, eine Zeit zum Suchen / und eine Zeit zum
Verlieren, / eine Zeit zum Behalten/ und eine Zeit zum
Wegwerfen, eine Zeit zum Zerreißen/ und eine Zeit zum
Zusammennähen, / eine Zeit zum Schweigen / und eine Zeit zum
Reden, eine Zeit zum Lieben / und eine Zeit zum Hassen, / eine Zeit
für den Krieg / und eine Zeit für den Frieden. (Koh 3,1-8)
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Oliver Barth, "Mein letzter Arbeitstag" in "Wo liegt eigentlich dieses Ostdeutschland?" in der Friedenskirche Frankfurt (Oder). |
Alles
hat seine Zeit!
Wir
haben diesen biblischen Text gehört und uns dafür heute vor dieses
Bild von Oliver Barth gesetzt.
„Mein
letzter Arbeitstag“ – für Studierende wirkt das vielleicht erst
mal nicht passend, weil der Einstieg ins Erwerbsleben in der Regel
erst noch bevorsteht.
Aber
bevor wir uns
inhaltlich mit dem Titel und seiner Botschaft auseinandersetzen,
schauen wir das Bild
zunächst genauer an: Es ist mehrfach aufgeteilt. Oben und unten
große Farbflächen. Orange, braun und rot bestimmen das
Farbspektrum. Rechts und links vom Zentrum verschiedene Anzeigen,
Knöpfe und Regler auf wüstem Grund, auch Fotos und Schilder mischen
sich darunter. Und in der Mitte: ein Maschendrahtzaun, der scheinbar
geöffnet wurde und den Blick freigibt auf eine trockene Landschaft.
In die Ferne ziehen sich Risse im Erdboden. Über allem ein dunkler
Himmel, in dem steht: „Mein letzter Arbeitstag“.
Angewendet
auf unser Thema wirkt es, als wäre außen eine Zeit für Arbeiten –
und in der Mitte eine Zeit für… ja für was eigentlich?
Ist
es Freiheit? Ungewissheit? Eine Zukunft ohne Zäune und Grenzen?
Zum
Verstehen des Bildes ist sicher wichtig zu wissen, welcher
Kontext dahinter steht:
Es geht in diesen Bildern und in der Ausstellung um Ostdeutschland.
Und deshalb sind Erfahrungen und Geschichten ostdeutscher letzter
Arbeitstage in dieses Bild eingeflossen.
Es
zeichnet ein eher trübes Bild vom Leben nach der Erwerbsarbeit –
denn in Ostdeutschland bedeutete das in den 90er Jahren in erster
Linie Massenentlassungen. Aus den Betrieben, die neben der
Erwerbsarbeit auch ein soziales Umfeld schufen und viel von den
Möglichkeiten und Grenzen in der Freizeit prägten, aus diesen
Betrieben, aus Kollektiven und Gruppen wurden viele hinaus entlassen.
Und standen nun, in der Zeit der offenen innerdeutschen Grenzen und
dann des vereinten Deutschland vor einer unklaren Situation. Anders
als erhofft, kam es nicht sofort zu blühenden Landschaften, vielmehr
traten Brache und Ödnis im Kontrast zum neuen Westen erst jetzt
richtig krass hervor.
„Eine
Zeit zum Arbeiten – und eine Zeit, um entlassen zu werden.
Eine
Zeit der offenen Grenzen – und eine Zeit der
Orientierungslosigkeit.“
So
könnte der Kontext Ostdeutschland das Bild erhellen.
Ich
möchte jetzt aber noch
einen weiteren,
allgemeineren Blick wagen: Was heißt es, drinnen zu sein – und
was, draußen?
Auch
hier ist das Kunstwerk interessant: Wir befinden uns in einem
Kirchenraum, in dem ein Bild einen Blick nach außen darstellt. Aber
eben nicht den Blick auf ein Außen vor der Kirche oder in Frankfurt,
sondern auf ein imaginiertes Außen irgendwo und nirgends.
Soweit,
so normal. Das ist ja eine der Aufgaben von Kunst – zeigen, was
nicht ist oder was sein könnte.
Für
mich schließen sich daran einige Fragen an, die über das Bild
hinausgehen:
1.
Welches Außen zeigen wir als Kirchen in unserer Verkündigung?
Ist
es die „böse Welt“, das fremde Außen, mit dem wir am liebsten
nichts zu tun haben wollen? Ist es das Bild einer feindlichen Welt,
vielleicht wüst und karg, weil hier im Osten das Christentum nicht
mehr blüht?
Oder
ist es das Bild von Gottes guter Schöpfung, die zu gestalten wir
berufen sind, eine Welt, in der Spannungen dazugehören, die aber
unser Zuhause ist und an deren Schönheit wir uns freuen können?
„Eine
Zeit der bösen Welt – und eine Zeit der guten Schöpfung Gottes“
– in welcher Zeit des Blicks nach draußen befinden wir uns gerade?
Natürlich
gibt es auch hier eine gewisse Vielfalt, je nach Mentalität und
Erfahrungen.
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Ausstellungsansicht "Wo liegt eigentlich dieses Ostdeutschland?" |
2.
Und wenn wir unsere inneren Augen öffnen – das Studium, die Lage
der Welt, die eigenen Pläne, Freunde und Familie…
Sehe
ich dann vielleicht eher eines der farbenfroheren Bilder von Anja
Beeken vor mir – oder doch die Wüste?
Welche
Zeit ist in mir? Sind die Zäune schon durchbrochen – oder hänge
ich noch an den Maschinen mit ihren Anzeigen und Reglern?
3.
Und, weil wir ja in einem Gottesdienst die ganz grundsätzlichen
Fragen angehen können:
Was
ist dieses Draußen? Bin ich als Mensch wirklich im Gegenüber zum
Draußen – oder gehöre ich nicht vielmehr an die frische Luft, in
den Wald, ins Wasser?
Mit
einem nicht wirklich berechenbaren Körper (und vom Geist ganz zu
schweigen), bin ich selbst Teil des wilden Draußen, bin Natur und
nicht eingehegt. Und nur teilweise ein „Innen“, das mir meine
Kultur oder mein Verstand oder meine Kleidung manchmal nahelegen.
Mich
inspiriert gerade ein Buch, das „Wilde Kirche“ heißt. Darin
erzählt der Autor Jan Frerichs von seinen Erfahrungen mit sich
selbst und der Natur – und mit Gott, den er ganz neu kennenlernt.
Denn ohne die oft etwas verkopften Vorstellungen vom Glauben geht es
ihm auch darum, dass wir (ähnlich wie ich es gerade beschrieben
habe) uns selbst als Teil eines Ganzen wahrnehmen. Als Teil der Welt
und als jene, die von Anfang an in der Wildnis Gott begegnen können.
So wie es in der Bibel oft berichtet wird – Gott in der Wüste, auf
einem Berg, in der Einsamkeit.
Wenn
ich auf das Bild schaue, dann ist das Draußen nicht sehr einladend.
Aber vielleicht sind meine Augen auch vorgeprägt. Vielleicht
sehen meine Augen ein Draußen, das stark von meinem Drinnen-Blick
geprägt ist. Also von einem Blick, der ordnet und sortiert und
vielleicht lieber auf Nummer Sicher geht.
Und
wenn wir weiter über das Bild hinausgehen, dann stellt sich
natürlich die Frage, wie ich drauf bin. Wie ich jetzt gerade bin.
Wie ich in mich und auf Gott und auf die Welt um mich herum schaue.
Oder um mit dem Thema des Gottesdienstes zu sagen:
„Alles hat seine Zeit –
eine Zeit für drinnen und eine Zeit für draußen.“
Und
wenn Drinnen für das Menschengemachte steht, für die den Fokus auf
eine Hierarchie, auf eine geordnete Glaubensvermittlung durch
Katechese und Glaubenskurse, dann ist das Draußen die eigene
Erfahrung.
In
diesem Drinnen haben wir ja sehr lang gelebt als Menschen, als
Gläubige.
Mit
Heiligen Schriften, mit Tempeln und Kirchen, mit Riten und Feiern –
und die können uns auch wirklich helfen.
Aber
schon mein Atem kann mich zu Gott führen – in mir und außerhalb,
unsichtbar und belebend, immer in Bewegung.
Auch
die Natur ist eine Spur Gottes – mit dem Blick über den Nebel der
Oder an einem Herbstmorgen, mit den überwältigenden Ausblicken von
Berggipfeln, mit dem unendlichen Kommen und Gehen der Wellen am
Strand.
Nicht
umsonst ist in der Bibel die Rede von Abraham, Mose, Elija, ja auch
von Jesus, die Gott begegnen in der Wildnis – in der Wüste, auf
Bergen, an Gewässern.
Die
Wüste auf dem Werk von Oliver Barth scheint keine Verheißungskraft
zu haben. Und das ist verständlich, wenn wir die ostdeutschen
Erfahrungen im Hinterkopf haben. Aber mit der Erfahrung der Menschen
aus den biblischen (und vielen anderen religiösen) Traditionen lässt
sich sagen, auch in der Wüste gibt es:
„Eine
Zeit, in wüster Verzweiflung Gottes Spuren zu entdecken – und eine
Zeit in großer Weite Hoffnung zu schöpfen.“
Und
ganz allgemein: Wir
können beide Wege nutzen – Gott zeigt sich uns in der Verkündigung
der Kirche (hoffentlich) genauso gut wie in dem „bestirnten Himmel
über mir“, von dem Immanuel Kant mit „Bewunderung und Ehrfurcht“
sprach.
Aber
wer entscheidet, für
was es jetzt Zeit ist – für mich – für dich?
Das
müssen wir wohl selbst tun – und können darauf vertrauen, dass
Gott unsere Bitte hört, wenn wir dabei Orientierung suchen.
Infos zum Ausstellungsprojekt: Wo liegt eigentlich dieses Ostdeutschland?
Träger: Oecumenisches Europa-Centrum Frankfurt (Oder) e.V.