Mittwoch, 21. November 2018

„Sie verurteilen mich nicht!“ Radio-Worte auf den Weg

In dieser Woche bin ich von Montag bis Samstag jeweils dreimal mit kurzen spirituellen Beiträgen aus dem Gefängnisalltag im Radio zu hören: 5.50 Uhr auf Radio Berlin 88.8; 6:45 Uhr auf Kulturradio; 9:12 Uhr auf Antenne Brandenburg. 
Hier die (ungefähr so vorgetragene) Textfassung von heute:

Als Gefängnisseelsorger bin ich während der Aufschlusszeiten oft auf den langen Gängen der Hafthäuser unterwegs. Da ergeben sich manchmal gute Gespräche mit Leuten, die nicht von sich aus in den Gottesdienst kommen. Die lockere Atmosphäre auf dem Gang gibt uns Gelegenheit, ganz frei zu plaudern und uns über dies und das auszutauschen.

Besonders eindrücklich ist mir eine Begegnung mit einem muslimischen Inhaftierten im Gedächtnis geblieben. Er interessierte sich sehr dafür, was ich als Seelsorger mache. Ich erklärte, dass ich in erster Linie aufmerksam zuhöre und versuche, das Problem meines Gegenübers gut zu verstehen. Dann könne ich gemeinsam mit ihm herausfinden, was für ihn hilfreich wäre. Als er das hörte, fragte er, ob auch er einmal zum Gespräch kommen kann.

Dienstag, 20. November 2018

„Ich kann doch nix machen!“ Radio-Worte auf den Weg

In dieser Woche bin ich von Montag bis Samstag jeweils dreimal mit kurzen spirituellen Beiträgen aus dem Gefängnisalltag im Radio zu hören: 5.50 Uhr auf Radio Berlin 88.8; 6:45 Uhr auf Kulturradio; 9:12 Uhr auf Antenne Brandenburg. 
Hier die (ungefähr so vorgetragene) Textfassung von heute:

Vor mir sitzt ein völlig verunsicherter Mann in meinem Alter. Er trägt Krankenhauskleidung und hat einen riesigen Verband am Kopf. In seinem Leben ist vieles schief gelaufen, von Drogensucht über den Verlust der Familie bis zu Obdachlosigkeit und Kleinkriminalität.

In meinen Gesprächen als Seelsorger im Haftkrankenhaus habe ich es häufig mit solchen vielfach gebrochenen Lebensgeschichten zu tun. In den meisten Fällen weiß ich auch keine Antwort auf die hilflosen Fragen meines Gegenübers. Im Gespräch versuchen wir zusammen herauszufinden, wie es weitergehen könnte.

Montag, 19. November 2018

Verwaist. Radio-Worte auf den Weg

In dieser Woche bin ich von Montag bis Samstag jeweils dreimal mit kurzen spirituellen Beiträgen aus dem Gefängnisalltag im Radio zu hören: 5.50 Uhr auf Radio Berlin 88.8; 6:45 Uhr auf Kulturradio; 9:12 Uhr auf Antenne Brandenburg. 
Hier die (ungefähr so vorgetragene) Textfassung von heute:

Wer eine Haft antreten muss, wird zu einem gewissen Grad zu einem Waisen, einem Einsamen. Und er hinterlässt Waisen in seinem persönlichen Umfeld außerhalb des Gefängnisses.[1]

Kinder verlieren ihre Väter, Schwestern ihre Brüder und Eltern ihre Söhne. Sie verschwinden zeitweise aus dem Leben ihrer Angehörigen. Denn zum Aufenthalt in einer Haftanstalt gehört naturgemäß die starke Einschränkung des Kontakts mit Familie, Bekannten und Freunden.

Samstag, 17. November 2018

Aufmerksam und erschüttert. Predigt über Apokalypse, Zeitzeichen und Missbrauch

Eigentlich finde ich es ein wenig lästig, dass wir jährlich diese apokalyptischen Texte (Mk 13,24-32) hören müssen, weil sich das Kirchenjahr dem Ende neigt und vor dem Advent diese Texte vorgesehen sind.
Aber ich will versuchen, aus diesen Texten das Beste für uns zu machen und ein paar Gedanken darlegen.

1. Blick auf einen schwierigen Text
Zunächst ist festzustellen, dass die Rede ist von einer Menge sichtbarer Zeichen – vor allem die natürliche Ordnung am Himmel scheint durcheinander zu geraten. Es geht um Sonnen- und Mondfinsternis, Kometenhagel und eine allgemeine Erschütterung aller Himmelskräfte.

Der Evangelist macht also einen riesigen Horizont auf und nimmt eine globale Perspektive ein, die an den Blick von Alexander Gerst aus der ISS erinnern, einen Blick, den wir mit den technischen und medialen Mitteln unserer Tage problemlos erreichen. Und wenn wir die Welt in diesem Jahr wahrnehmen – beispielsweise die Überflutungen in Indien, den Jahrhundertsommer mit seiner extremen Trockenheit, aktuell die Waldbrände in Kalifornien oder auch die menschengemachten Katastrophen wie den Krieg im Jemen oder die Flüchtlinge im Mittelmeer – dann sehen auch wir Erschütterungen in großer Zahl.

Freitag, 16. November 2018

Unechte Sicherheiten. Gianna Molinaris "Hier ist noch alles möglich"

Wie gut passt dieses Buch doch in unsere Zeit!
Allerorten versucht man, Dinge festzuzurren und greifbar zu machen, nationale und begriffliche Grenzen zu schließen, Fakten justiziabel zu formulieren und auf diesen Wegen die allerorten aufkommenden Ängste zu bändigen. Dabei benötigen wir doch gerade in unserer hochkomplexen Welt die Fähigkeit, nicht alles sofort einzutüten und wegzustecken, sondern Fragen auch mal offenzuhalten und die Unklarheit des Lebens auszuhalten.

Ich glaube, genau darum geht es in Gianna Molinaris Debütroman mit dem sprechenden Titel "Hier ist noch alles möglich".1
Die junge Frau, welche die Geschichte erzählt, beginnt gerade einen neuen Job als Nachtwächterin in einer Kartonfabrik. Obwohl die Fabrik bald schließen wird, soll noch ein angeblich auf dem Gelände aufgetauchter Wolf gefangen werden. Für den gibt es allerdings keine Beweise außer einer angeblichen Sichtung und sonst nur sehr spärliche Hinweise. Der Roman umkreist die Arbeit vor den Monitoren und an den Löchern des Zaunes, die Umgebung des Fabrikgeländes mit einem nahegelegenen Flughafen und erlaubt sich von Zeit zu Zeit kurze Abstecher auf ferne Inseln.

Samstag, 10. November 2018

Soldaten zu Bischöfen!? St. Martin und das Ende des Ersten Weltkriegs

Ein Gedanke zum gemeinsamen Feiertag von Weltkriegsende, in Frankreich derzeit mit großem Aufwand gefeiert, und dem Gedenken des Tagesheiligen Martin von Tours:

Das große Sterben auf den Schlachtfeldern und die inneren Verletzungen der heimgekehrten Soldaten prägen meinen Blick auf den Ersten Weltkrieg. Die überlebenden "Kriegszitterer" entsprachen nicht dem damals vorherrschenden Bild des heroischen Kämpfers, der ausgezogen war, um seiner Nation auf dem Schlachtfeld Ehre zu erringen.
Für die Deutschen war es zudem die Heimkehr in eine völlig neu entstehende politische Ordnung. "Mit Gott für Kaiser und Reich" (so ein Filmtitel von 1916) waren sie ausgezogen – zurück kamen sie im Gefühl, von Gott verlassen zu sein und Kaiser und Reich verloren zu haben. Bodenlos.

Stabilität und Fliehkräfte.
Neukölln, Berlin, 2018.
Wie geordnet wirkt auf mich dagegen die Welt der ausgehenden Antike:
Martin quittierte im römischen Heer seinen Dienst, weil das christliche Bekenntnis und der Kriegsdienst nicht zusammengingen.
Sein Werdegang vom Soldaten zum Bischof entwickelte sich der Legende nach zwar entgegen seinem Willen, aber es war ein Weg hinein in kirchliche Verantwortung als christliche Aufgabe.

Martin ist von seinen Kriegszügen in ein Leben der inneren Stabilität hineingegangen. Klare mentale Verhältnisse in seinem klaren Einstehen für den christlichen Glauben stelle ich mir vor, auch wenn die Kirche seiner Zeit ebenfalls durch umwälzende Krisen und Konflikte ging.

Für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wiederum ist bekannt, dass die christlichen Kirchen als stabilisierende Faktoren das Leben der einzelnen Gläubigen prägten, die nach dem Krieg Halt suchten. Eine Hinwendung zur Religion scheint nach den Schrecken eines Krieges psychologisch also durchaus nachvollziehbar.

Vielleicht findet sich hier die passendste Parallele zwischen Weltkriegsende und dem Heiligen Martin:
Im Krieg wird das ganze menschliche Welterleben erschüttert. Christsein kann ein möglicher Weg sein, dies zu verarbeiten. Dafür ist Martin ein prominentes Beispiel. Für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg allerdings muss man konstatieren, dass viele Menschen zunehmend die Nation für den richtigen Weg hielten, mit den Herausforderungen der Zeit umzugehen. 


Der Verfasser der Biographie des Heiligen Martin, Sulpicius Severus, stellt uns das Auftreten Martins vor dem Kaiser unter dem Stichwort des Dienstes vor: "Bis heute habe ich dir gedient, Herr, jetzt will ich meinem Gott dienen und den Schwachen. Ich will nicht mehr länger kämpfen und töten. Hiermit gebe ich dir mein Schwert zurück."

Die Sehnsucht nach Frieden trieb ihn zu Gott und die Sehnsucht nach Gott trieb ihn zum Frieden. 


Kritischer Nachsatz: Ich frage mich (gänzlich unhistorisch), warum dieser fromme Christ Martin unbedingt ein kirchliches Leitungsamt erhalten musste. Verdammter Klerikalismus! Weshalb diese Fixierung auf den Bischof? Hätte das Zeugnis eines Getauften, das Leben eines "einfachen" Eremiten (der er zeitweise war) nicht eine besondere, andere Strahlkraft entwickeln können?
Ich ärgere mich, dass Martin sich nicht heftiger gegen seine Inthronisierung zur Wehr gesetzt hat, um mit seinem Leben als christlicher Laie zu zeigen, wie lebendiges Christsein aussehen kann.

Allerdings ... (und nun folgen alle legitimen historischen und theologischen Gegengründe, die ich hier tunlichst nicht aufführe)

Donnerstag, 8. November 2018

"Es sind zu viele Juden im Zug" – Gedanken zum 9. November

"Es sind zu viele Juden im Zug, dachte Silbermann."1

Das sagt kein Antisemit, sondern die Hauptperson in Ulrich A. Boschwitz' wiederentdeckten und in diesem Jahr erstmals herausgegebenen Roman "Der Reisende". Silbermann, wohlhabender Unternehmer im Deutschland der 1930er Jahre ist selbst Jude und, wie der Titel verrät, auf Reisen. Dies ist er jedoch nicht zum Vergnügen, sondern Silbermann befindet sich auf der Flucht. Er ist in den Strudel der nationalsozialistischen Machtdemonstrationen und Ausschreitungen jener Jahre geraten und sieht sein gesamtes bisheriges Leben zerstört.
Vom ehemaligen Geschäftspartner wurde er über den Tisch gezogen, SA-Schlägertrupps haben seine Wohnung verwüstet, seine Frau ist zu ihrem Bruder geflohen, der ihn selbst jedoch nicht beherbergen will und vor lauter Angst, irgendwo dauerhaft zu bleiben, reist der zunehmend gestresste und paranoide Silbermann immer wieder quer durch Deutschland.

Samstag, 3. November 2018

"Ich wollte dir nur mal eben sagen..." – Dreimal Liebe im Lied

Zum Evangelium des Sonntags (Mk 12,28b-34), das von Gottes- und Nächstenliebe handelt, kamen mir drei Lieder in den Sinn.

1. Gottesliebe
Mehr als nur "Ein Kompliment" machen die Musiker von Sportfreunde Stiller mit ihrem Liebeslied indem sie im Song einfach Vergleich an Vergleich reihen:

Donnerstag, 1. November 2018

Allerheiligen: Hochfest der Vielfalt

Der Gedanke kann kurz und bündig formuliert werden:

"Each saint was holy in his or her unique way, revealing how God celebrates individuality."1

So verschieden die Menschen, so verschieden auch die Heiligen.

Mittwoch, 31. Oktober 2018

Reformation: Energieverlust oder -gewinn?

Nato-Manöver, Atomwaffenbau oder INF-Verträge – wenn man die gewaltigen Anstrengungen und riesigen Kosten sieht, mit denen die Nationen versuchen, einander mit Waffengewalt beizukommen und zu übertrumpfen, dann schaudert es mich. Noch dazu im gleichen Moment die Klimaveränderungen solch gewaltige Ausmaße annehmen, dass es nun wahrlich bessere Möglichkeiten gäbe, die menschlichen Fähigkeiten und Energien zu nutzen.

Ähnlich steht es mit der Reformation, deren Gedenken heute begangen wird.
So, wie die evangelische und die katholische Kirche (mindestens im deutschen Sprachraum) in sozialethischen, umweltehischen und in vielen theologischen Fragen miteinander können, fragt man sich, ob die ganze Kirchenspaltung und (theologische) Kriegführung es überhaupt wert war.

Samstag, 27. Oktober 2018

Was wurde aus Bartimäus? Recherchen und Phantasien zum Sonntagsevangelium

Seine Begegnung mit Jesus (Mk 10,45-52) ist eine der bekanntesten Heilungsgeschichten des Neuen Testaments geworden:
Am Rande der Straße nach Jericho sitzend hört der blinde Bettler Bartimäus, dass Jesus vorbeikommt und ruft nach ihm: "Sohn Davids, Jesus, hab Erbarmen mit mir!" (v47) Entgegen dem Widerstand seiner Begleiter lässt Jesus ihn zu sich kommen und fragt ihn, was er will. Die gläubige Antwort "Ich möchte sehen können" (v51) führt zu seiner Heilung.
Anschließend heißt es: "und er folgte Jesus auf seinem Weg nach." (v52)

Doch dann verschwindet Bartimäus aus der Bibel. Zwar heißt es in den anschließenden Kapiteln bei Markus regelmäßig, dass Jesus mit den Jüngern und nicht nur mit "den Zwölf", also den namentlich bekannten Aposteln, unterwegs ist, aber Namen aus dieser größeren Gruppe tauchen nicht mehr auf.

Samstag, 20. Oktober 2018

Der Macht nahe sein? Enttäuschung auf ganzer Linie.

1.
Sie kennen das Gefühl wahrscheinlich und haben sicher auch schon das ein oder andere Mal zu hören bekommen, dass jemand sagt: Du bist eine Enttäuschung für mich.
Jemand hatte Erwartungen an Sie gestellt und sich etwas Schönes von Ihnen erhofft – und Sie haben versagt.

Ich gebe Ihnen ein Beispiel aus meinem Berufsalltag:
An manchen Tagen im Gefängnis habe ich den Eindruck, dass ich nur enttäuschen kann.

Freitag, 19. Oktober 2018

Schrei um Erbarmen. Gebet nach einem Tag im Gefängnis

Großer Gott,
selten ist mir danach, zu schreien und dich um Erbarmen anzurufen, wenn ich aus dem Gefängnis komme.

Aber heute ist so ein Tag, an dem ich nicht anders kann!
Was fährt in die Menschen, dass sie sich gegenseitig so fertigmachen? Warum muss es immer wieder bis kurz vor den Anschlag gehen? Warum zu oft darüber hinaus?

Samstag, 13. Oktober 2018

"Fromm warst du ja, aber..." Oscar Romero und die Kirche der Armen

Du hast dich sehr bemüht, bist fromm gewesen, warst Rom treu und hast alle Regeln befolgt, dich mit den wichtigen Leuten gut verstanden und bist damit in der kirchlichen Hierarchie weit gekommen. Aber das Entscheidende fehlt dir noch - die Nähe zur Armut und den Armen!“

Ganz im Sinne des Sonntagsevangeliums (Mk 10,17-30) hätte Jesus mit solchen Worten zu Erzbischof Oscar Romero sprechen können, als dieser noch ein „guter“, und das heißt ein in schon lang vorhandenen Bahnen agierender Bischof in El Salvador war.
Dass Romero allerdings an diesem Sonntag heiliggesprochen wird, hat nicht damit zu tun, wie er bis Anfang 1977 sein Bischofsamt in dem von sozialen Verwerfungen und gewalttätigen Auseinandersetzungen erschütterten Land in Mittelamerika ausübte.

Dienstag, 9. Oktober 2018

Vater, Vergebung und Versuchung. Vom Vaterunser

Der heutige Evangelientext (Lk 11,1-4) bietet die Version des Vaterunsers aus dem Lukasevangelium.
Die Jünger Jesu wollen von ihrem Meister wissen, wie sie beten sollen. Jesu Antwort ist knapp und deutlich, aber sie lohnt einen näheren Blick, da es sich ja um das wichtigste Gebet der Christen handelt.
Ich konzentriere mich auf drei Aspekte.

Der Vater wartet.
Neukölln, Berlin, 2015.
1. Vater unser im Himmel
Gott lässt sich von uns als Vater anreden. Und damit als der, von dem wir herkommen. Das heißt, wir sind ihm von unserem Ursprung her ähnlich und nahe.
Gott spricht zu jedem Einzelnen: Du kommst von mir – und ich wünsche mir, dass du auch nach mir kommst und mir immer ähnlicher wirst. So ist Gott als Vater zugleich der, der liebevoll wartet, dass wir zu ihm kommen.
Eigentlich ein komisches Bild: Gott wartet auf uns. Aber genau so stellt Jesus uns Gott vor in seinem Gleichnis vom Verlorenen Sohn: Der Sohn hat Mist gebaut und alles ausgegeben, was er hatte und kommt nun kleinmütig wieder – da steht sein Vater schon mit offenen Armen da und nimmt ihn in Empfang.

Je nachdem, welche Erfahrungen wir selbst mit unseren Vätern gemacht haben, wird uns das rasch einleuchten oder auch nicht.
Wer den eigenen Vater nur als einen Arbeitenden, der spät nach Hause kommt, erlebt hat, oder als einen, der vielleicht sehr ungeduldig und aufbrausend ist, möglicherweise als einen, der seine Wut nicht im Griff hat, dem bietet sich Gott mit einem gänzlich anderen und neuen Vaterbild an.

Gott ist zunächst ein Vater, der da ist. Er versteckt sich nicht, wenn wir ihn suchen und er bleibt nicht in seinem Himmel, wenn wir uns auf den Weg zu ihm machen. Sondern er ist da und wartet und kommt uns in Jesus sogar entgegen.
Weiter ist Gott ein Vater, der uns liebevoll anschaut und uns bittet, bei ihm zu sein. Er ruft uns immer wieder. Dafür muss er sehr geduldig sein. Denn wir machen immer wieder, was wir wollen und oft genug ist das nicht anwesend sein, geduldig sein, liebevoll sein.
Schließlich ein Stolperstein: Gott liebt uns alle. Ich halte das deshalb für einen Stolperstein, weil es uns so schwer fällt, zu glauben, dass dieser Stinkstiefel da für Gott genauso liebenswert sein soll wie ich. Aber genauso ist es: Dieser Vater-Gott liebt jede und jeden. Ob wir im Gefängnis sitzen oder ob wir dort arbeiten. Ob wir drogenabhängig sind und zum x-ten Mal rückfällig geworden sind oder ob wir unsere Süchte einigermaßen unter Kontrolle haben. Ob wir schnell zuschlagen oder uns dauernd vom Leben geschlagen fühlen.

Wer also im Gebet Gott als Vater anspricht, der verlässt sich beruhigt darauf, dass Gott mit ganzer Liebe da ist. Dass Gott ihn erwartet.
Und er sieht seine Nachbarn ebenfalls als Gottes geliebte Kinder an.

2. Vergib uns unsere Schuld – wie auch wir vergeben unseren Schuldigern
Eben klang es schon an, dass der Vater in Jesu Gleichnis ein vergebender und großzügiger Vater ist.
Aber im Vaterunser wird darüber hinaus davon gesprochen, dass nicht nur Gott uns vergibt, sondern auch wir unseren Nachbarn.

Manch einer mag sich fragen: Was hat meine Schuld mit der Schuld meines Nächsten zu tun?
Auf einer rein juristischen Ebene ist beispielsweise klar, dass die eine Straftat dieser Person und die andere Straftat jener Person nicht direkt miteinander zu tun haben. Und es ist auch klar, dass ein Richter sein Strafmaß nicht davon abhängig macht, ob ich sonst ein netter Mensch bin.
Wenngleich, es deutet sich an, wenn manche Aspekte einen Einfluss auf den Schuldspruch und später die Strafdauer haben: gibt es eine Einsicht in die Schuld, gibt es das Bemühen um Wiedergutmachung, gibt es Vorstrafen in der gleichen Richtung oder gibt es sie nicht?

Vergeben statt am Rad drehen.
Fangschleuse, 2016.
Vor Gott ist klar, dass wir alle schuldig werden und Vergebung brauchen, egal ob ein irdischer Richter etwas dazu sagt oder nicht.
Und vor Gott geht es zwar auch um unsere Taten – aber in erster Linie geht es ihm um unser Herz.
Wenn wir Gott um Vergebung bitten, dann öffnen wir ihm unser Herz. Und unser geöffnetes Herz wird auch offen sein für die Anderen. Für jene, die an uns schuldig geworden sind, für jene, die bei uns Schulden haben, für jene, die unsere Großzügigkeit brauchen.

Das heißt nun aber von der anderen Seite her nicht, dass wir einfach so Schulden machen können, von der Großzügigkeit anderer leben und diese ausnutzen (ich habe hier vor allem die im Gefängnis allgegenwärtige Tabakfrage vor Augen).
Aber es bedeutet, dass wir als Menschen, die etwas geschenkt bekommen, auch anderen schenken können und sollen.
Konkret auf Vergebung bezogen: Wo wir merken, dass uns vergeben wird, dass wir uns nicht mehr in der Schuld suhlen müssen, dass uns aufgeholfen wird – dort müssen auch wir selbst nicht kleinlich sein, sondern können es uns leisten, nachsichtig mit den Schwächen unserer Nächsten zu sein.

Wer also so betet, der kann nicht selbstgerecht auf Andere herabsehen, denn er weiß, dass er selbst auch Vergebung und Verzeihung nötig hat. „Ja es ergibt sich das Erschütternde, dass er an sich selbst staunend erfährt, wie ihn die eigene Unzulänglichkeit und Heruntergekommenheit erbarmender macht", wie es Gertrud von Le Fort ausdrückt.1

3. Führe uns nicht in Versuchung
Hier versteckt sich eine der kniffligsten Fragen für Christen überhaupt: Wie kommen wir mit den Versuchungen zurecht? Also mit all dem, was so leicht bei uns andocken kann und uns dabei doch nach unten zieht und kaputt macht. 
Das Vaterunser geht davon aus, dass Versuchungen zum Leben dazu gehören. 

Viele Menschen hier im Haftkrankenhaus kennen dies aus therapeutischen Kontexten: In mir will etwas unbedingt. Da geht es um Triebkontrolle oder um Bedürfnisaufschub, darum, nicht schon wieder rückfällig zu werden und so fort.
Die Religionen kennen diese Problematik seit langem: Im Buddhismus ist eines der wichtigsten Ziele, um ins Nirwana zu kommen, dass man nicht weiterhin Dinge will. Es geht also darum, sein Herz nicht an etwas zu hängen und sich innerlich immerzu danach zu verzehren. Mit anderen Worten: die Versuchung gar nicht erst groß werden zu lassen. Auch das Judentum hat vor beinahe 3000 Jahren in den Zehn Geboten formuliert: "Du sollst nicht das Haus deines Nächsten begehren. Du sollst nicht die Frau deines Nächsten begehren, nicht seinen Sklaven oder seine Sklavin, sein Rind oder seinen Esel oder irgendetwas, das deinem Nächsten gehört." (Ex 20,17)

Für jeden, scheint dieser Text sagen zu wollen, lauert die Versuchung woanders und jeder muss für sich hören, was er denn so unbedingt haben will und dagegen ankämpfen. 
Für die einen mag es eine Versuchung sein, wenn ich jetzt eine bestimmte Tablettenschachtel hier hinlege, für die anderen wäre es vielleicht eher eine Versuchung, wenn ich meinen Schlüssel oder das Funkgerät hier liegenließe und den Raum kurz verlassen würde.

Das Entscheidende geschieht auch hier im Inneren. Denn wir können Gott zwar bitten, dass wir nicht in die Versuchung geraten (wozu es in diesem Jahr eine spannende theologische Debatte gab), aber wenn wir einmal versucht werden, müssen wir uns zu dieser Versuchung eben verhalten. Und wir alle wissen, dass das mitunter schneller geht als man so glaubt.
Aber als Menschen haben wir immerhin die Möglichkeit, uns unterschiedlich zu verhalten. Denn wir können in die Distanz zu uns selbst zu gehen – uns selbst anschauen als herausgeforderte und manchmal überforderte Menschen. Und in dieser Distanz vielleicht leichter eine Antwort finden, als wenn wir mitten in der Versuchung feststecken.
So lässt sich vielleicht von den Buddhisten die Frage abschauen, was es denn ist, das mir wirklich hilft und mich weiterbringt. Ist es das „Anhaften" an den Dingen, die (Sehn-)Sucht nach meinen kleinen Hilfsmitteln und Muntermachern, das ständige Habenwollen?
Was bringt mich im Leben weiter, der kurzfristige Kick und die Befriedigung meiner unmittelbaren Bedürfnisse und Triebe – oder gibt es andere Wege?
Wenn wir also beten, dass Gott uns nicht in Versuchung führen solle, dann bedeutet das auch, darum zu bitten, dass wir klarer erkennen, was uns gegen die Versuchung hilft. Wir müssen jeder für sich einen guten Grund finden, um der Sache, die uns erst wie magisch anzieht und dann runter zieht, nicht schon wieder auf den Leim zu gehen.

Wer darum betet, von den Versuchungen verschont zu werden, der weiß um seine eigene Schwäche. Der kann mehr und mehr üben, mindestens zeitweise zu sich und seinen Neigungen in Distanz zu gehen. Der wird sich einen überzeugenden Grund suchen, der Versuchung nicht nachzugeben.

Zum Mitnehmen bleiben also vielleicht diese drei Punkte:

1. Wir können uns darauf verlassen, dass Gott als naher, geduldiger und gütiger Vater auf uns wartet.

2. Wir können selbst vergeben und barmherziger werden, weil wir wissen, dass wir nicht besser sind als die anderen.

3. Wir können üben, unsere hinderlichen Bedürfnisse und Triebe aus innerer Distanz wahrzunehmen und uns nicht von ihnen kapern zu lassen.


P.S.: Liturgische Gedanken zum Vaterunser hier.

Gute Stützpfeiler finden!
Prora, 2016.

1   G.v. le Fort, In: G. Greene, Vom Paradox des Christentums. Mit einem Geleitwort von G.v. le Fort. Zürich 1952, 11.