Samstag, 28. März 2020

Der Ruf, der lebendig macht. Beobachtungen zum Tod des Lazarus und zu "Der Tod Jesu"

"...manchmal erblickt er in der Gestalt eines Kindes, das über die Straße rennt oder die Treppe hochflitzt, das Bild von David und verspürt größte Verbitterung darüber, dass allein sein Kind fortgenommen werden musste, während neunundneunzig andere unbeschadet weiterspielen und glücklich sein können. Es erscheint ungeheuerlich, dass ihn die Dunkelheit verschlungen hat, dass es keinen Aufschrei gibt, kein Klagen, kein Haareraufen oder Zähneknirschen, dass die Welt sich weiter um ihre Achse dreht, als wäre nichts geschehen."1

Ein Mensch ist gestorben und es ist schwer auszuhalten, dass es niemanden groß zu kümmern scheint. Ein Einzelschicksal hebt die Welt nicht mehr aus den Fugen; gerade in diesen Tagen bestehen die Horrormeldungen vor allem in der hohen Anzahl der am Virus Gestorbenen.

Simon aus J.M. Coetzees neu erschienenem Buch "Der Tod Jesu" durchlebt das Durcheinander der Gedanken und Gefühle. Enttäuschung, Wut, Unverständnis kommen in ihm auf, als der aus "Die Kindheit Jesu" und "Die Schulzeit Jesu" bekannte Junge David von einer geheimnisvollen Krankheit langsam dahingerafft wird.

Erinnerungen für einen Toten.
Neuruppin, 2019.
Den Schwestern des Lazarus ging es wohl ähnlich (vgl. Joh 11,1-45). Sie lassen Jesus extra rufen – doch der kommt nicht. Erst als Lazarus schon tot ist, macht er sich auf den Weg. Vorwurfsvoll tritt ihm Marta entgegen: "Herr, wärst du hier gewesen, dann wäre mein Bruder nicht gestorben." (v21)

Jesus antwortet ihr jedoch nicht auf der emotionalen Ebene, sondern mit theologischen Aussagen. Ich zweifle, dass Marta das wirklich geholfen hat.
Doch dann kommt etwas, das ihr hilft. Es ist dasselbe, was sich auch Simon erhofft hatte: Solidarität und ein Gespür für die Tiefe des Verlustes. Als Jesus die Trauer der Familie sieht, "war er im Innersten erregt und erschüttert." (v33)

Mitgefühl und Trost, viele Weisen, sich an den geliebten Toten zu erinnern, sind hlfreich und gut. Aber verschwunden bleibt Lazarus trotzdem.

In Coetzees Roman werden nach und nach drei Formen benannt, wie Menschen mit dem Verlust Davids umgehen:
Mitschüler Davids führen "un spectaculo" im Gedenken an ihren verstorbenen Freund auf; sie spielen typische Szenen aus ihrem Alltag mit ihm, tanzen zu seinen Ehren und setzen Davids großen Helden Don Quijote in Szene. All das rührt Simon und Ines, doch es nimmt ihren Verlust nicht weg.
Auch die geheimnisvollen Anspielungen von einer besonderen Botschaft Davids, die der Straftäter Dimtri (als Bewunderer Davids ebenfalls aus dem vorherigen Band bekannt) erhalten haben will, bringt David nicht zurück und bringt eine Menge Unruhe.
Schließlich hört Simon von Schwärmern, die im Namen Davids randalieren und Tiere befreien. "Einige von ihnen behaupten, mystische Visionen gehabt zu haben, Visionen, in denen ihnen David erschienen sei und ihnen Anweisungen gegeben habe."2
In all diesen Formen der Erinnerung soll David eine Art Weiterleben gesichert werden – und ich argwöhne, dass der Autor diese Formen der posthumen Verehrung als kritische Sicht auf den Auferstehungsglauben der Christen präsentiert. Riten und kultische Spiele, geheime Botschaften, die nur wenigen zuteil werden oder radikaler Taten im Namen einer höheren Macht, all das kennt man in unterschiedlichen Ausprägungen auch aus religiösen Bewegungen nach dem Tod des Stifters.
Doch, so scheint Coetzee sagen zu wollen, der Tote bleibt nun einmal tot.

Schauen wir aber noch einmal auf Lazarus, dann bleibt Jesus nicht bei Trauer und Erinnerung an Lazarus stehen. Wo andere nur hilflosen Aktionismus entfalten, geht Jesus einen Schritt weiter.

Er betet laut: "Vater, ich danke dir, dass du mich erhört hast." (v41) und ruft: "Lazarus, komm heraus!" (v43)

Das Letzte, so sagt dieses Evangelium, ist nicht die Enttäuschung und der Ärger. Das Letzte sind auch nicht die theologischen Floskeln. Das Letzte ist nicht die Erinnerung, in welcher schönen Form auch immer. Das Letzte ist nicht, um in unsere Zeit zu schauen, der Fatalismus oder die Panik angesichts der steigenden Zahlen von Infizierten und Toten.

Nein, das Letzte ist nach diesem Evangelium der Ruf ins Leben.
Das Letzte ist ein Ruf, der lebendig macht.
Das Letzte ist ein Ruf, der ein neuer Anfang ist.
Auf diesen Ruf hoffen wir in diesen unruhigen Zeiten.

Ein inneres Leuchten?
Schloss Biesdorf, Berlin, 2019.



1   J.M. Coetzee, Der Tod Jesu. Frankfurt a.M. 2020, 167.
2   Ebd., 194.

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