"...manchmal erblickt er in der
Gestalt eines Kindes, das über die Straße rennt oder die Treppe
hochflitzt, das Bild von David und verspürt größte Verbitterung
darüber, dass allein sein Kind fortgenommen werden musste, während
neunundneunzig andere unbeschadet weiterspielen und glücklich sein
können. Es erscheint ungeheuerlich, dass ihn die Dunkelheit
verschlungen hat, dass es keinen Aufschrei gibt, kein Klagen, kein
Haareraufen oder Zähneknirschen, dass die Welt sich weiter um ihre
Achse dreht, als wäre nichts geschehen."1
Ein Mensch ist gestorben und es ist
schwer auszuhalten, dass es niemanden groß zu kümmern scheint. Ein
Einzelschicksal hebt die Welt nicht mehr aus den Fugen; gerade in
diesen Tagen bestehen die Horrormeldungen vor allem in der hohen
Anzahl der am Virus Gestorbenen.
Simon aus J.M. Coetzees neu
erschienenem Buch "Der Tod Jesu" durchlebt das
Durcheinander der Gedanken und Gefühle. Enttäuschung, Wut,
Unverständnis kommen in ihm auf, als der aus "Die
Kindheit Jesu" und "Die
Schulzeit Jesu" bekannte Junge David von einer
geheimnisvollen Krankheit langsam dahingerafft wird.
Erinnerungen für einen Toten. Neuruppin, 2019. |
Den Schwestern des Lazarus ging es wohl
ähnlich (vgl. Joh
11,1-45). Sie lassen Jesus extra rufen – doch der kommt nicht.
Erst als Lazarus schon tot ist, macht er sich auf den Weg.
Vorwurfsvoll tritt ihm Marta entgegen: "Herr, wärst du hier
gewesen, dann wäre mein Bruder nicht gestorben." (v21)
Jesus antwortet ihr jedoch nicht auf
der emotionalen Ebene, sondern mit theologischen Aussagen. Ich
zweifle, dass Marta das wirklich geholfen hat.
Doch dann kommt etwas, das ihr hilft.
Es ist dasselbe, was sich auch Simon erhofft hatte: Solidarität und
ein Gespür für die Tiefe des Verlustes. Als Jesus die Trauer der
Familie sieht, "war er im Innersten erregt und erschüttert."
(v33)
Mitgefühl und Trost, viele Weisen,
sich an den geliebten Toten zu erinnern, sind hlfreich und gut. Aber
verschwunden bleibt Lazarus trotzdem.
In Coetzees Roman werden nach und nach
drei Formen benannt, wie Menschen mit dem Verlust Davids umgehen:
Mitschüler Davids führen "un
spectaculo" im Gedenken an ihren verstorbenen Freund auf;
sie spielen typische Szenen aus ihrem Alltag mit ihm, tanzen zu
seinen Ehren und setzen Davids großen Helden Don Quijote in Szene.
All das rührt Simon und Ines, doch es nimmt ihren Verlust nicht weg.
Auch die geheimnisvollen Anspielungen
von einer besonderen Botschaft Davids, die der Straftäter Dimtri
(als Bewunderer Davids ebenfalls aus dem vorherigen Band bekannt)
erhalten haben will, bringt David nicht zurück und bringt eine Menge
Unruhe.
Schließlich hört Simon von
Schwärmern, die im Namen Davids randalieren und Tiere befreien.
"Einige von ihnen behaupten, mystische Visionen gehabt zu
haben, Visionen, in denen ihnen David erschienen sei und ihnen
Anweisungen gegeben habe."2
In all diesen Formen der Erinnerung
soll David eine Art Weiterleben gesichert werden – und ich
argwöhne, dass der Autor diese Formen der posthumen Verehrung als
kritische Sicht auf den Auferstehungsglauben der Christen
präsentiert. Riten und kultische Spiele, geheime Botschaften, die
nur wenigen zuteil werden oder radikaler Taten im Namen einer höheren
Macht, all das kennt man in unterschiedlichen Ausprägungen auch aus
religiösen Bewegungen nach dem Tod des Stifters.
Doch, so scheint Coetzee sagen zu
wollen, der Tote bleibt nun einmal tot.
Schauen wir aber noch einmal auf
Lazarus, dann bleibt Jesus nicht bei Trauer und Erinnerung an Lazarus
stehen. Wo andere nur hilflosen Aktionismus entfalten, geht Jesus
einen Schritt weiter.
Er betet laut: "Vater, ich
danke dir, dass du mich erhört hast." (v41) und ruft:
"Lazarus, komm heraus!" (v43)
Das Letzte, so sagt dieses Evangelium,
ist nicht die Enttäuschung und der Ärger. Das Letzte sind auch
nicht die theologischen Floskeln. Das Letzte ist nicht die
Erinnerung, in welcher schönen Form auch immer. Das Letzte ist
nicht, um in unsere Zeit zu schauen, der Fatalismus oder die Panik
angesichts der steigenden Zahlen von Infizierten und Toten.
Nein, das Letzte ist nach diesem
Evangelium der Ruf ins Leben.
Das Letzte ist ein Ruf, der lebendig
macht.
Das Letzte ist ein Ruf, der ein neuer
Anfang ist.
Auf diesen Ruf hoffen wir in diesen
unruhigen Zeiten.
Ein inneres Leuchten? Schloss Biesdorf, Berlin, 2019. |
1 J.M.
Coetzee, Der Tod Jesu. Frankfurt a.M. 2020, 167.
2 Ebd.,
194.
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