Mittwoch, 29. April 2020

"Vertigo" – Eine Auferstehungsversion an Alfred Hitchcocks 40. Todestag

"Aus dem Reich der Toten" (1958) ist einer der besten und bekanntesten Filme von Alfred Hitchcock. Der Originaltitel "Vertigo" bedeutet übersetzt "Schwindel" – und das kann hier durchaus im doppelten Sinn als Störung des Gleichgewichts einerseits und als lügnerischer Betrug andererseits verstanden werden.1

Im Hintergrund aber geht es um eine Auferstehungsgeschichte der besonderen Art.

Schwindelhöhe?!
Potsdamer Platz, Berlin, 2018.
Als der von James Stewart verkörperte Detective Scottie bei einer Verfolgungsjagd hilflos und in großer Höhe an einer Dachkante hängt, stirbt ein Kollege, der an ihm vorbei in die Tiefe stürzt. Sein Schwindelgefühl zwingt ihn in die Frühverrentung. Als sein alter Kriegskamerad Gavin ihn bald darauf engagiert, seine Frau Madeleine (Kim Novak) zu überwachen, nimmt ein ausgeklügeltes Betrugsspiel seinen Lauf. Der traumatisierte Scottie folgt Madeleine und rettet sie aus der Bay von San Francisco, in die sie angeblich gefallen ist. Als sich der Ex-Polizist nach und nach in die Blondine verliebt, kommt es schließlich zum ersten Showdown: Madeleine stürzt anscheinend von einem Kirchturm in den Tod, während Scottie wegen seines Schwindels die Treppe nicht hinaufkommt und unfähig ist, sie zu retten.
In der Folge gerät er noch einmal "in einen ausweglosen Kerker aus Schuld und Verlassenheit."2 Zugleich verfällt er einer Obsession – er begibt sich an die Orte ihrer Begegnungen und sucht die Verlorene. Geblendet von seiner schuldverstrickten Liebe meint er Madeleine in jeder entfernt so ähnlich aussehenden blonden Frau zu erkennen.

Bis er schließlich Judy trifft, auch sie von Kim Novak dargestellt, nun aber rothaarig, stark geschminkt, im Gegensatz zu der aristokratisch kühlen Blondine von einst nun proletarisch und aufgetakelt. Als Zuschauer erfahren wir, dass es sich um dieselbe Frau handelt, die von Gavin dafür bezahlt wurde, seine Ehefrau zu spielen, um Scottie zum Zeugen des vermeintlichen Todes seiner echten Frau zu machen. 

Scottie erkennt in Judy die vermeintlich Tote wieder, aber die Lebende ist nicht nach seinem Geschmack. Nach und nach verwandelt er sie in seine Vorstellung von Madeleine. Judys Kleidung wird der der Toten angeglichen, ebenso die Frisur und das Auftreten.
Es zeigt sich: Nur Scotties Erinnerung zählt, nicht der Wille der Lebenden. Mehrfach sagt er: "It can‘t matter to you!" – So schlimm kann es doch für dich nicht sein, wenn du dich mir fügst...
Man erlebt also, so schreibt Hellmuth Karasek, "Szenen einer bewegenden Nekrophilie",3 in der nicht mehr die in der Gegenwart Lebende, sondern die langst vergangene Tote wichtig ist.
Makabere Pointe am Rande: Wichtigster Maßstab von Scotties Auferstehungswünschen ist die Lügenfassade der falschen Madeleine.

Hitchcock selbst hatte die in Scotties Wünschen verborgenen sexuellen Implikationen dieser Liebe ziemlich deutlich im Kopf:
"Stewarts Anstrengungen, die Frau wieder auferstehen zu lassen, werden filmisch so gezeigt, als versuche er sie nicht an- sondern auszuziehen. Die Szene, die meinen Vorstellungen am genauesten entspricht, ist die, nachdem sich das Mädchen das Haar hat blondieren lassen. James Stewart ist immer noch nicht ganz zufrieden, weil sie das Haar nicht zum Knoten hochgebunden hat. Was heißt das? Das heißt, fast steht sie nackt vor ihm, sie braucht nur noch den Slip auszuziehen. James Stewart verlegt sich aufs Bitten, und sie sagt 'Gut, ich mach's schon' und geht ins Bad zurück. James Stewart wartet. Er wartet darauf, daß sie diesmal nackt zurückkommt, bereit zur Liebe."4

Nach wessen Wunsch geformt?
Blossin, 2020.
Sei so, wie ich dich haben will!, scheint Scottie zu sagen. Einen solchen Gestus aber verträgt die Liebe nicht. 
"Halte mich nicht fest" (Joh 20,17) muss auch Maria Magdalena bei ihrer Begegnung am Ostermorgen von Jesus hören – genau das aber versucht der verliebte Scottie in Hitchcocks Film.

Auch sonst ist der Film äußerst aufschlussreich, wenn er mit den Augen einer christlichen Ostertheologie betrachtet wird, denn auch der originale Auferstandene, der Jesus der Evangelien, erscheint in gänzlich anderer Weise als zuvor und ist, wenn überhaupt, nur unter Schwierigkeiten erkennbar.

Wie die Frauen in den Evangelien Jesus suchen (vgl. Lk 24,1ff), so hat Scottie seine verflossene Liebe gesucht und gesucht – und auch er hat schließlich die Richtige gefunden, wenngleich Judy sich nicht als die echte Doppelgängerin zu erkennen gibt. Hier verbirgt sich ein Clou des Films – wie in den Evangelien, so ist auch hier die Lebende wirklich die Tote, nur dass Madeleines Tod ein Schwindel war.
Die Verwandlung von Judy in Madeleine oder anders gesagt: Auferstehung der falschen Madeleine in der echten echten Judy soll Scottie von der Schuld am Tod der Geliebten erlösen.

Vor dem letzten Showdown hat Scottie endlich erkannt, dass er betrogen wurde und will die Wahrheit von der zu Madeleine umgeformten Judy erzwingen: "You're my second Chance" ruft er wieder und wieder. In der Neuen glaubt er die Alte noch einmal erreichen und auf diese Weise beide Schwindel zugleich überwinden zu können.
"And then i'll be free of the past", hofft Scottie, als er die falsche und die echte Frau, die Tote und die Lebende nach seinem Willen übereingebracht hat.

Hitchcock aber, der Meister des Thrillers, der heute vor 40 Jahren in Los Angeles starb, wusste, dass es so einfach nicht geht:
Auferstehung ist kein Mittel zum Zweck, kein Vehikel der menschlichen Wünsche nach ewiger Liebe.
Diese hohe Wahrheit verbirgt sich in einem wunderbar traurigen Film, den ich nur empfehlen kann.

Unmögliche Spiegelung?!
Von-der-Schulenburg-Park, Neukölln, Berlin, 2018.

1   Vgl. R. M. Hahn / V. Jansen, Die 100 besten Kultfilme. Von "Metropolis" bis "Fargo". München 1998, 591.
2   H. Karasek, Mein Kino. Die 100 schönsten Filme. München 1995, 300.
3   Ebd.
4   A. Hitchcock, zit. n. R. M. Hahn / V. Jansen, a.a.O., 597.

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