"Aus dem Reich der
Toten" (1958) ist einer der besten und bekanntesten Filme
von Alfred Hitchcock. Der Originaltitel "Vertigo" bedeutet
übersetzt "Schwindel" – und das kann hier durchaus im
doppelten Sinn als Störung des Gleichgewichts einerseits und als
lügnerischer Betrug andererseits verstanden werden.1
Im Hintergrund aber geht
es um eine Auferstehungsgeschichte der besonderen Art.
Schwindelhöhe?! Potsdamer Platz, Berlin, 2018. |
Als der von James Stewart
verkörperte Detective Scottie bei einer Verfolgungsjagd hilflos und
in großer Höhe an einer Dachkante hängt, stirbt ein Kollege, der
an ihm vorbei in die Tiefe stürzt. Sein Schwindelgefühl zwingt ihn
in die Frühverrentung. Als sein alter Kriegskamerad Gavin ihn bald
darauf engagiert, seine Frau Madeleine (Kim Novak) zu überwachen,
nimmt ein ausgeklügeltes Betrugsspiel seinen Lauf. Der
traumatisierte Scottie folgt Madeleine und rettet sie aus der Bay von
San Francisco, in die sie angeblich gefallen ist. Als sich der
Ex-Polizist nach und nach in die Blondine verliebt, kommt es
schließlich zum ersten Showdown: Madeleine stürzt anscheinend von
einem Kirchturm in den Tod, während Scottie wegen seines Schwindels
die Treppe nicht hinaufkommt und unfähig ist, sie zu retten.
In der Folge gerät er
noch einmal "in einen ausweglosen Kerker aus Schuld und
Verlassenheit."2
Zugleich verfällt er einer Obsession – er begibt sich an die Orte
ihrer Begegnungen und sucht die Verlorene. Geblendet von seiner
schuldverstrickten Liebe meint er Madeleine in jeder entfernt so
ähnlich aussehenden blonden Frau zu erkennen.
Bis er schließlich Judy
trifft, auch sie von Kim Novak dargestellt, nun aber rothaarig, stark
geschminkt, im Gegensatz zu der aristokratisch kühlen Blondine von
einst nun proletarisch und aufgetakelt. Als Zuschauer erfahren wir,
dass es sich um dieselbe Frau handelt, die von Gavin dafür bezahlt
wurde, seine Ehefrau zu spielen, um Scottie zum Zeugen des
vermeintlichen Todes seiner echten Frau zu machen.
Scottie erkennt in Judy
die vermeintlich Tote wieder, aber die Lebende ist nicht nach seinem
Geschmack. Nach und nach verwandelt er sie in seine Vorstellung von
Madeleine. Judys Kleidung wird der der Toten angeglichen, ebenso die
Frisur und das Auftreten.
Es zeigt sich: Nur
Scotties Erinnerung zählt, nicht der Wille der Lebenden. Mehrfach
sagt er: "It can‘t matter to you!" – So schlimm
kann es doch für dich nicht sein, wenn du dich mir fügst...
Man erlebt also, so
schreibt Hellmuth Karasek, "Szenen einer bewegenden
Nekrophilie",3
in der nicht mehr die in der Gegenwart Lebende, sondern die langst
vergangene Tote wichtig ist.
Makabere Pointe am Rande: Wichtigster
Maßstab von Scotties Auferstehungswünschen ist die Lügenfassade der falschen
Madeleine.
Hitchcock selbst hatte die
in Scotties Wünschen verborgenen sexuellen Implikationen dieser
Liebe ziemlich deutlich im Kopf:
"Stewarts
Anstrengungen, die Frau wieder auferstehen zu lassen, werden filmisch
so gezeigt, als versuche er sie nicht an- sondern auszuziehen. Die
Szene, die meinen Vorstellungen am genauesten entspricht, ist die,
nachdem sich das Mädchen das Haar hat blondieren lassen. James
Stewart ist immer noch nicht ganz zufrieden, weil sie das Haar nicht
zum Knoten hochgebunden hat. Was heißt das? Das heißt, fast steht
sie nackt vor ihm, sie braucht nur noch den Slip auszuziehen. James
Stewart verlegt sich aufs Bitten, und sie sagt 'Gut, ich mach's
schon' und geht ins Bad zurück. James Stewart wartet. Er wartet
darauf, daß sie diesmal nackt zurückkommt, bereit zur Liebe."4
Nach wessen Wunsch geformt? Blossin, 2020. |
Sei so, wie ich dich haben
will!, scheint Scottie zu sagen. Einen solchen Gestus aber verträgt
die Liebe nicht.
"Halte mich nicht
fest" (Joh 20,17) muss auch Maria Magdalena bei ihrer
Begegnung am Ostermorgen von Jesus hören – genau das aber versucht
der verliebte Scottie in Hitchcocks Film.
Auch sonst ist der Film
äußerst aufschlussreich, wenn er mit den Augen einer christlichen
Ostertheologie betrachtet wird, denn auch der originale
Auferstandene, der Jesus der Evangelien, erscheint in gänzlich
anderer Weise als zuvor und ist, wenn überhaupt, nur unter
Schwierigkeiten erkennbar.
Wie die Frauen in den
Evangelien Jesus suchen (vgl. Lk 24,1ff), so hat Scottie seine
verflossene Liebe gesucht und gesucht – und auch er hat schließlich
die Richtige gefunden, wenngleich Judy sich nicht als die echte
Doppelgängerin zu erkennen gibt. Hier verbirgt sich ein Clou des
Films – wie in den Evangelien, so ist auch hier die Lebende
wirklich die Tote, nur dass Madeleines Tod ein Schwindel war.
Die Verwandlung von Judy
in Madeleine oder anders gesagt: Auferstehung der falschen Madeleine
in der echten echten Judy soll Scottie von der Schuld am Tod der
Geliebten erlösen.
Vor dem letzten Showdown
hat Scottie endlich erkannt, dass er betrogen wurde und will die
Wahrheit von der zu Madeleine umgeformten Judy erzwingen: "You're
my second Chance" ruft er wieder und wieder. In der Neuen
glaubt er die Alte noch einmal erreichen und auf diese Weise beide
Schwindel zugleich überwinden zu können.
"And then i'll be
free of the past", hofft Scottie, als er die falsche und die
echte Frau, die Tote und die Lebende nach seinem Willen
übereingebracht hat.
Hitchcock aber, der
Meister des Thrillers, der heute vor 40 Jahren in Los Angeles starb,
wusste, dass es so einfach nicht geht:
Auferstehung ist kein
Mittel zum Zweck, kein Vehikel der menschlichen Wünsche nach
ewiger Liebe.
Diese hohe Wahrheit
verbirgt sich in einem wunderbar traurigen Film, den ich nur
empfehlen kann.
Unmögliche Spiegelung?! Von-der-Schulenburg-Park, Neukölln, Berlin, 2018. |
1 Vgl.
R. M. Hahn / V. Jansen, Die 100 besten Kultfilme. Von "Metropolis"
bis "Fargo". München 1998, 591.
2 H.
Karasek, Mein Kino. Die 100 schönsten Filme. München 1995, 300.
3 Ebd.
4 A.
Hitchcock, zit. n. R. M. Hahn / V. Jansen, a.a.O., 597.
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