1. "Jesus stellte ein Kind
in ihre Mitte und nahm es in die Arme" (Mk 9,36)
Dieser zentrale Satz aus dem
Evangelium des Sonntags (Mk 9,30-37) lässt bei manch einem die Alarmglocken
schrillen.
Denn die Rede davon, dass eine
religiöse Autorität ein Kind in die Arme nimmt, hat in der
katholischen Kirche ihre Unschuld verloren. Seit erneut Berichte über
die sexuellen Übergriffe durch katholische Geistliche in den USA und
in
Deutschland bekannt wurden, ist das religiöse Sprechen über
Kinder eine heikle Sache geworden.
Jedenfalls tue ich mich schwer, hier
fromme Gedanken zu diesem Thema zu verkünden.
|
Viel Schatten durch das Licht.
Jakobskirche, Stralsund, 2018. |
Denn ich bin Mitarbeiter einer
Institution, die über Jahre und Jahrzehnte hinweg das eigene Ansehen
über den Schutz und die Würde der Opfer sexueller Gewalt gestellt
hat. Durch ständiges Wegsehen und systematische Vertuschung, durch
klammheimliche Versetzungen der Täter und die Beschimpfung der
Aufklärer als Nestbeschmutzer hat die katholische Kirche sich oft
genug als unwillens und unfähig erwiesen, dem Verbrechen in ihrer
Mitte ein Ende zu machen. Das Leiden der Opfer von sexuellen
Übergriffen ist nun nicht mehr ungeschehen zu machen.
Was aber möglich ist: Den Opfern nun endlich zuzuhören und zu erfahren, was durch den Missbrauch
zerstört worden ist.
Dann muss es um Gerechtigkeit gehen:
Täter müssen klar benannt und zur Rechenschaft gezogen werden,
soweit dies noch möglich ist.
Schießlich die Frage nach den
Strukturen: Beschwerdewege und Schutzmechanismen sind inzwischen in
vielen Teilen der Kirche etabliert und es ist zu hoffen, dass damit
auch ein Mentalitätswandel einhergegangen ist. Aber reicht das?
Papst Franziskus hat den Klerikalismus, also die Überhöhung
geistlicher Amtsträger, als Ursache angeprangert. Auch die
kirchliche Sexualmoral, die Hierachien, die undurchsichtigen
Versetzungen tragen ihren Teil bei.
Wie dem auch sei: Meine Kirche hat vor
dem Anspruch Jesu kläglich versagt, denn nicht die Sorge für die
Kinder stand im Zentrum, sondern ihr eigener Schutz.
Verantwortungslosigkeit pur! Dieses Versagen müssen wir heute mit
Trauer und Scham erkennen.
Aber es ist eine zwiespältige Sache,
als Mitglied der Kirche irgendwie sich selbst und dann doch nicht
sich selbst anzuklagen, da ich ja persönlich oft genug gar keinen
Einfluss auf solche Dinge habe.
2. "Wer
ein Kind aufnimmt, der nimmt mich auf" (Mk 9,37)
Deshalb will ich den Blick von der
heutigen Situation zurück auf Jesu Intention lenken:
Jesus war voller Ehrfurcht und
Wertschätzung gegenüber den Kindern.
Er stellte sie bisweilen als religiöse
Vorbilder hin: "Wer das Reich Gottes nicht so annimmt wie ein
Kind, der wird nicht hineinkommen." (Lk 18,17) Und das tut
er in einer Zeit, als der Kitsch von Babys, die auf den großen
Händen der Erwachsenen schlafen, undenkbar war, als noch keine
Kinderbilder mit riesigen Kulleraugen existierten und noch kein süßes
Jesuskind mit blonden Locken verehrt wurde.
Kinder waren keine Vorbilder, sie waren
in den Augen seiner Zeitgenossen nur unfertige Erwachsene und
reichlich defizitär. Dagegen rückt Jesus ihre Offenheit für Gott
und sein Wirken ins Zentrum.
Heute nun geht er noch einen Schritt
weiter und spricht von der engen Verbindung zwischen dem Aufnehmen
eines Kindes und dem Aufnehmen Gottes selbst: "Wer ein
solches Kind um meinetwillen aufnimmt, der nimmt mich auf; wer aber
mich aufnimmt, der nimmt nicht nur mich auf, sondern den, der mich
gesandt hat." (v37)
|
Kinder ändern die Lebensperspektive.
Inselkirche, Hiddensee, 2018. |
Aber was soll das bedeuten: ein Kind
"aufnehmen"?
In den seltensten Fällen laufen
irgendwo Kinder auf der Straße herum, die man dann aufnimmt. Darum
wird es also nicht gehen.
Kinder zu haben aber bedeutet, bei
aller Freude und Lockerheit, die sie ins Leben bringen können, in
erster Linie Arbeit. Es ist ein mühevolles Tun, den eigenen
Tagesrhythmus an einem Kind auszurichten, es mit Geduld an Hygiene und
Essen heranzuführen, vollgekackte Windeln zu wechseln, in der
Krankheit und bei jedwedem Geschrei ruhig und geduldig zu bleiben,
und nicht zuletzt die Balance zu finden zwischen nachsichtiger Liebe
und den Regeln.
Diese Mühe muss man, wenn ein Kind
erst einmal da ist, einfach auf sich nehmen, denn ohne die liebevolle
Sorge kann ein Kind nicht leben.
Eindrucksvoll zeigt das der aktuelle
Roman "Neujahr" von Juli Zeh, in dem sich dem
Familienvater Henning im Urlaub die schreckliche Erfahrung des
Verlassenseins wieder ins Gedächtnis drängt. Vor vielen Jahren
waren seine Eltern beim Urlaub auf Lanzarote am Morgen plötzlich aus
dem Ferienhaus verschwunden gewesen und hatten den Vierjährigen mit
seiner zwei Jahre jüngeren Schwester allein gelassen. Die Autorin beschreibt aus der Sicht
des zunächst besonnen agierenden Henning, den immer wieder und immer
stärker die Panik anfällt, bis ihn die ungeheure Verantwortung, in
die er urplötzlich gestellt ist, fast umwirft, einen verzweifelten Kampf ums Überleben und die sinnlose
Suche nach einem Sinn der Verlorenheit.
Kindliche Überforderung und die
völlige Unfähigkeit, in dieser haltlose Situation einen Halt zu
finden, haben ihre traumatisierenden Spuren in seinem Leben als
Ehemann und Vater hinterlassen. Es ist eine dem eben genannten
Missbrauch verwandte Form der Traumatisierung.
Mich hat dieser Roman völlig fertig
gemacht – und zugleich vollends fasziniert. Denn er zeigt (neben
vielen anderen Dingen) aus verschiedenen Perspektiven, wie
unabdingbar wichtig die elterliche Sorge für das Wohl eines Kindes
ist.
Wenn Jesus nun dazu auffordert, Kinder
aufzunehmen, dann geht es genau um diese Verantwortung, in der
Erwachsene gegenüber Kindern stehen. Dasein, sich kümmern,
liebevoll mitgehen und zeigen, dass sie nicht allein sind. Das ist
ein Dienst, bei dem man selbst nicht an erster Stelle steht.
Insofern gehört der Schutz von Kindern
zum Zentrum des Christlichen!
3. "Vater unser im Himmel"
(Mt 6,9)
Zugleich ist diese Haltung, religiös
gesprochen, die Art von Väterlichkeit, die wir auch von Gott als
unserem himmlischen Vater erwarten dürfen.
Hier kreuzen sich nämlich die
theologischen Linien: Einerseits dürfen wir uns vertrauensvoll als
gesegnete Kinder Gottes fühlen und ihn im Vaterunser als unseren
Vater ansprechen. Andererseits sind wir in die Pflicht genommen,
Kindern verantwortlich und dienend zu begegnen.
Beide inneren Haltungen, die des
vertrauenden Kindes und die des verantwortlichen Erwachsenen, haben
Platz in uns und beide können uns zu dem einen Ziel führen: dass
wir Gott näher kommen.
Denn das ist ja das Ziel des
Evangeliums: Jesus will zeigen, auf welchem Wege wir Gott begegnen
können.
Zusammengefasst lässt sich aus dem
bisher Genannten verallgemeinernd sagen, dass wir Gott begegnen
können, wenn wir Verantwortung übernehmen, wenn wir dienen, wenn
wir nicht uns selbst an erste Stelle setzen.
(Entgegengesetzt also zu dem Verhalten,
wie es Priester und Bischöfe im Zuge des Missbrauchs und des Umgangs
mit dem Missbrauch an den Tag legten – bzw. verschleierten.)
Darauf deutet auch der andere wichtige
Satz des Evangeliums hin: "Wer der Erste sein will, soll der
Letzte von allen und der Diener aller sein." (v35)
Das eben Erwähnte findet sich darin
wieder – und noch mehr.
Der Satz erinnert nämlich daran, dass
die Werte, von denen ich eben sprach, nicht selbstverständlich,
nicht leicht zu leben und schon gar nicht populär sind. Denn sie zu
leben bedeutet, Abstriche zu machen, nicht zu drängeln, runterkommen
vom eigenen hohen Ross.
Den Verantwortlichen in der Kirche
stünde das in diesen Zeiten gut an. Papst Franziskus geht nach
meiner Ansicht in vielen Bereichen schon mit einem guten Beispiel
voran.
Aber auch alle anderen Christen, die
Gott als Vater anrufen, sagen mit dieser Anrede Gottes, dass sie
selbst nicht auf dem ersten Platz stehen. Sondern dass sie ihm im
Gebet ihr Leben anvertrauen – die Verherrlichung seines Namens, das
tägliche Brot, die eigene Schuld, die Rettung vor den Versuchungen
und allem Bösen. Wer so betet, stellt sich selbst nicht in die erste
Reihe.
So kann das Beten des Vaterunsers uns
vielleicht eine gute Erinnerung sein an das, was uns das Evangelium
auträgt:
Zu Gott als Vater sprechen bedeutet
auch, auf den Schutz der Schwächsten zu achten. Es bedeutet, sich
nicht nach vorn zu stellen, sondern Verantwortung zu übernehmen und
zu dienen.
|
Blick in Abgründe / Blick nach draußen.
Heimvolkshochschule Seddiner See, 2016. |