Mit Herrn A. bin ich seit einigen Monaten regelmäßig im Gespräch. Zuerst hatte er um ein Krisengespräch gebeten, als er lange Zeit im Einschluss war, da man befürchtete, dass Gefahr von ihm ausgeht. Inzwischen ist der Einschluss vorbei und unsere Gespräche gehen trotzdem weiter.
Sonntag, 15. November 2020
Mittwoch, 11. November 2020
Vox populi 2. Wie der heilige Martin zum Bischof wurde
Dies ist das Gegenstück zum letzten Beitrag. War ich dort skeptisch, bin ich hier euphorisch, habe ich dort die kritische Zurückhaltung geprobt, erhoffe ich hier einen Fortschritt.
Denn bei Martin können wir sehen, wie Bischofsernennungen auf katholisch auch funktionieren können. Nicht von oben, aus Rom, käme dann das Machtwort, sondern von unten, aus dem Volk Gottes, würde ein Bischof legitimiert.
Martin, der Soldat, der zum Einsiedler geworden war, wurde nach dem Tod des vorherigen Bischofs von Tours vom Volk gesucht, damit er, der heilige Mann aus der klösterlichen Abgeschiedenheit, der neue Bischof werde. Die Legende erzählt, dass Martin gar nicht wollte und sich sogar im Gänsestall versteckte, bis die Gänse ihn durch ihr Geschnatter verrieten.
Montag, 9. November 2020
Vox populi – vox Dei? Gedanke am 9. November
Mit der Stimme des Volkes ist es so eine Sache.
Doch der andere 9. November, der von
1938, erinnert uns daran, wie aufgepeitschte Massen in einer
angeblich spontanen, dabei von den Nationalsozialisten gesteuerten
und organisierten gewalttätigen Aktion jüdische Geschäfte und
Synagogen zerstörten. Das deutsche Volk war anscheinend scharf
darauf, es seinen jüdischen Mitbürgern mal so richtig zu zeigen.
Samstag, 7. November 2020
Ihr seid wichtig – seid auch bereit! Predigt zum Gleichnis von den zehn Jungfrauen
"Sie haben Ihre VPK1 leider doch erst übernächste Woche!"
"Bitte haben Sie noch etwas Geduld, ich brauche nur noch eine Unterschrift!"
"Der Teilanstaltsleiter möchte da noch einmal draufschauen, ich kann Ihnen erst in ein paar Tagen Bescheid geben."
"Der Psychologische Dienst ist gerade nicht besetzt, da müssen Sie leider noch warten."
"Leider bin ich bei dem Termin im Urlaub, mit dem Gespräch wird es erst im nächsten Monat was."
Sie kennen diese und viele andere Aussagen, die alle darauf hinauslaufen, dass Sie sehr geduldig sein müssen, bis in Ihrem Haftverlauf irgendetwas passiert.
Sie kennen damit auch das Gefühl beständiger Unsicherheit, ob nun demnächst eine entscheidende Änderung eintritt oder nicht.
Sonntag, 1. November 2020
Allerheiligen: Halo-Effekt und echte Heiligkeit
Theoretisch weiß jeder, dass nicht alles Gold ist, was glänzt. Trotzdem fallen wir immer wieder auf Blender herein.
In der katholischen Kirche ist das in den letzten Jahren auch bei einigen Gründern Geistlicher Gemeinschaften und Orden der Fall gewesen: der lang protegierte Gründer der Legionäre Christi Marcial Maciel mit seinen diversen Liebschaften und Kindern oder ganz aktuell der des vielfachen Missbrauchs beschuldigte Gründer der Schönstattbewegung Josef Kentenich sind besonders populäre Beispiele dafür, wie Charisma und religiöse Schönrederei den Blick für die dunklen Stellen getrübt haben.
Die Sozialpsychologie bezeichnet dieses Phänomen als "Heiligenschein" oder "Halo-Effekt":
Freitag, 30. Oktober 2020
"5x Nein und 5x Ja." Dokumentation eines Appells polnischer Geistlicher zur aktuellen Situation.
Heute reisen Menschen aus ganz Polen nach Warschau, um dort gegen die Entscheidung des Verfassungsgerichts in Sachen Abtreibungsrecht demonstrieren. Rechte Gruppen, Hooligans, Polizei und Militär wollen sich entgegenstellen. Gewalt liegt in der Luft.
Angesichts dessen bin ich (auch nach meinem letzten Beitrag) sehr froh, dass es in der polnischen katholischen Kirche eine erstaunliche Vielfalt und Fähigkeit zur Abwägung gibt, an die ich angesichts der aufgeheizten Situation schon fast nicht mehr geglaubt hätte.
Dienstag, 27. Oktober 2020
Polen und die Abtreibungsfrage. Ein persönlicher Kommentar
Ich mache keinen Hehl aus meiner Ratlosigkeit.
Wenn ich nach Polen schaue, dann sehe ich eine autoritäre Regierung, die seit Jahren unverhohlen den Rechtsstaat zerstört und den öffentlichen Diskurs unangenehm polarisiert. Dabei hat sie oft konservative Kirchenführer auf ihrer Seite. Als liberal empfindender Mensch spüre ich regelmäßig Abscheu, wenn ich die vielen politischen Tiefschläge sehe und wahrnehme, wie parteiisch sich die Bischöfe oft verhalten.
Die Verschärfung des Abtreibungsrechts durch das von Parteigängern der Regierungspartei PiS besetzte Verfassungsgericht scheint in die Linie zu passen. Seit Tagen protestieren nun Polinnen und Polen auf den Straßen, in den Kirchen und heute auch im Sejm, dem Unterhaus des polnischen Parlaments. Sie sehen dieses Vorgehen als Kriegserklärung an.
Freitag, 23. Oktober 2020
Gottes- und Nächstenliebe. Irrwege und Praxistipps
Wie viel erfolgreicher könnte das Christentum doch sein,
...wenn es schöne Effekte bieten würde, Heilungen oder überzeugende Weissagungen,
...wenn es reichen würde, ein paar Kerzen anzuzünden oder einen Rosenkranz zu beten,
... wenn tolle Bauwerke, bunte Gewänder und erhabene Musik entscheidend wären,
... wenn die Kenntnis von Geboten oder Verboten, von Bibelversen und Gebeten ausreichen würde.
Aber nein – Jesus sagt im Evangelium des Sonntags (Mt 22,34-40) sehr klar: Es geht um LIEBE.
Samstag, 17. Oktober 2020
Unter Gottes Prägestempel. Ignatius von Antiochien und die zwei Münzen
Während ich noch in den Briefen des altkirchlichen Bischofs Ignatius von Antiochien blätterte und anfing, die ganz unten stehenden Gedanken in den Computer zu tippen, fiel mir ein Kapitel aus seinem Brief an die Magnesier ins Auge, in dem er das Motiv der Münzen aus dem morgigen Evangelium (Mt 22,15-21) variiert – und das sich darum viel besser für einen Beitrag an diesem Tag eignet.
Im fünften Kapitel schreibt der Märtyrerbischof:
"Es gibt zwei
Möglichkeiten: Tod oder Leben, und jeder wird dorthin gelangen,
wohin er gehört.
Es gibt ja auch zwei
Sorten Münzen, die einen gehören Gott und die anderen der Welt. Und
jede Münzsorte weist eine besondere Prägung auf. So tragen die
Ungläubigen die Prägung dieser Welt – die aber glauben, tragen
die Liebe als Prägestempel Gottes, des Vaters, den Jesus Christus
uns aufgedrückt hat. An seinem Leiden haben wir nur Anteil, wenn wir
uns freiwillig dafür entscheiden, nach dem Vorbild seines Leidens zu
sterben."1
Samstag, 10. Oktober 2020
Nimm die Einladung doch an! Und feiere mit! Eine Predigt zu Mt 22,1-10
Was für eine Enttäuschung! Was für eine Frechheit!
Aber auch:
Was für ein Choleriker! Was für eine brutale Überreaktion!
Der Text des Sonntagsevangeliums (Mt 22,1-10) lässt mich mit vielen starken Eindrücken und einer Reihe von offenen Fragen zurück.
Warum sind diese Leute so wenig interessiert an einem großen Fest? Warum fühlen sich alle hier so schnell gereizt und genervt?
Was ist diesem König an seinem Fest so wichtig, dass er sogar Leute, die gar nicht dabei sein wollen, dazuholt?
Ich nähere mich der ganzen Sache mal mit einer persönlichen Geschichte:
Donnerstag, 8. Oktober 2020
Gutes nicht übersehen! Zum Tod von Ruth Klüger
Nachdem ich bei meinem Freiwilligendienst vor fast zwanzig Jahren in der Ukraine mit vielen Überlebenden aus deutschen Konzentrationslagern zu tun hatte, las ich sehr eine Menge KZ-Erinnerungen.
Kein Zeugnis hat mich so nachhaltig beeindruckt wie das von Ruth Klüger, die am 6. Oktober diesen Jahres in Kalifornien gestorben ist.
Die analytische und völlig unpathetische Weise, den Schrecken ihrer Erfahrungen zu schildern, driftet nie ins Unpersönliche oder Empathielose. Trotz aller kritischen Härte spricht große Menschlichkeit und Weisheit aus ihrem Erinnerungsbuch "weiter leben".1
Beim Durchblättern meiner vor einigen Jahren erst gelesenen Ausgabe habe ich gerade eine Reflexion wiederentdeckt, die mich damals sehr nachdenklich machte.
Donnerstag, 1. Oktober 2020
Mauern vor dem Himmel. Die Schattenzeiten der Theresa von Lisieux
Schein und Wirklichkeit klaffen bisweilen weit auseinander.
Besonders wenn es um Heilige geht, stellen wir uns gern glaubensstarke Persönlichkeiten vor, die heroisch Gutes tun und vorbildliche Gottesbeziehungen pflegen.
Entsprechend groß war der allgemeine Schrecken über das erschreckend dunkle Glaubensleben der Mutter Teresa von Kalkutta, wie es vor einigen Jahren in ihren veröffentlichten Tagebüchern zum Ausdruck kam.
Aber auch die "Selbstbiographischen Schriften"1 der so genannten "kleinen" Theresa von Lisieux bringen dies zum Ausdruck. Schwach und kränklich wie sie ist, schreibt sie im Auftrag der Priorin Marie de Gonzague im Juni 1897 ihre Lebens- und Glaubensgeschichte auf.
Samstag, 26. September 2020
Gewalt in der Bischofskonferenz und Angela Merkels Vermächtnis
Ich will das auch ausprobieren: Etwas versprechen und dann das Gegenteil davon tun.
So wie mit dem Titel dieses Posts. Vielleicht wird nichts von dem dort Angekündigten in diesem Beitrag auftauchen.
Was macht das mit dir? Was macht das mit einer Person, die diese große Ankündigung liest und deren Erwartungen dann enttäuscht werden?
Ist sie enttäuscht? Oder eigentlich nicht sonderlich überrascht? Lacht sie? Oder hört sie auf mit Lesen?
Das weiß ich alles nicht.
Samstag, 19. September 2020
Supergerechtigkeit. Gefangen im Weinberg
Wie wird man einem Menschen und seinem Tun gerecht?
So fragt beispielsweise das Sonntagsevangelium (Mt 20,1-16) von der Bezahlung der Arbeiter im Weinberg.
Ich möchte auf diese Frage mit einer Provokation aus meiner Arbeitswelt antworten:
Gerecht wäre es, Menschen, die wegen eines Verbrechens inhaftiert sind, besonders anständig und zuvorkommend, besonders freundlich und hilfsbereit zu behandeln und ihnen besonders gute Chancen zu geben, sich weiter zu entwickeln.
Das ist erklärungsbedürftig: Wenn sie es zuvor nicht geschafft haben, (selbst)verantwortlich zu leben, werden sie es wohl kaum lernen, wenn sie in einer Haftanstalt wenig bis keine Möglichkeiten haben, auszuprobieren, was es heißt, Verantwortung zu übernehmen.
Sie müssten also regulär die Möglichkeit bekommen, echte Verantwortung einzuüben, wo das heutige Gefängnis ihnen fast alle Entscheidungen abnimmt.