Von Zeit zu Zeit werde ich
gefragt, wie ich das denn mache bei meinen Gesprächen im Gefängnis.
Ob ich nicht ab und zu der Meinung sei, ich hätte nun schon wieder
dasselbe gehört wie gestern. Ob ich auch wirklich jede persönliche
Tragik individuell würdigen könne. Und überhaupt, wie es denn sei,
wenn so viele verschiedene Leute kommen und alle ernst- und
wahrgenommen werden wollen – das ginge doch sicher nicht?!
Himmelwärts mit Hindernissen. Vogelnetze, Zoologischer Garten, Berlin, 2017. |
Tatsächlich muss ich
sagen, dass das von meiner Tagesform abhängig ist.
Aber im Großen und Ganzen
versuche ich, bei jeder Person, die mir gegenüber sitzt, ganz
anwesend zu sein und ihr mit größtmöglichem Wohlwollen zu
begegnen.
Ich kann und will nicht
unterscheiden, wen ich mehr und wen ich weniger ernst nehme.
Kurz: Die wichtigste
Person ist immer die gerade anwesende.
Wenn wir (bei aller
bleibenden größeren Unähnlichkeit der Vergleichspartner in dieser
Sache!) auch Gott als Seelsorger aller Menschen ansehen, der noch
dazu immer bei jeder Person anwesend ist, hieße diese Aussage, dass
ihm jede Person die wichtigste ist.
Das passt natürlich wunderbar zu grundlegenden Aussagen über Gott. Und auch dem modernen Bewusstsein für Gerechtigkeit kommt es entgegen.
Das passt natürlich wunderbar zu grundlegenden Aussagen über Gott. Und auch dem modernen Bewusstsein für Gerechtigkeit kommt es entgegen.
Wie aber passt es zusammen mit dem, was die Kirche über Maria sagt, die der katholische Glaube mit so viel wunderbaren Wendungen und Namen besingt?
Man nehme nur die Marienlieder:
Maria ist dort die Gnadenreiche, Makellose, Engelsgleiche, Wunderschön prächtige, hohe und mächtige, liebreich holdselige himmlische Frau, Mutter der Barmherzigkeit, Patronin voller Güte, Pforte der Seligkeit, ...
Von Gott her geschaut
scheint es da eine eindeutige Bevorzugung Mariens vor anderen
Menschen zu geben.
Und bei allem Idealismus gibt es selbstverständlich auch für Seelsorger Personen, die einem näher sind als andere. Vielleicht würde ich sie nicht sooo ausufernd loben, aber die Unterschiede sind schon deutlich da, ob ich das nun will oder nicht.
Mit dem einen komme ich
leichter ins Gespräch, mit anderen teile ich gemeinsame Erfahrungen
(wie das Vatersein), andere kommen aus der gleichen Gegend wie ich...
Dieser Ungleichheit
entkommt man auch bei Gott nicht.
Schon im Alten Testament
zeigt sich, dass Gott recht wählerisch ist und manche Menschen vor
anderen eindeutig bevorzugt – Abels Opfer nimmt er an, Kains will
er nicht – was für Abel zum Verhängnis wird (vgl. Gen 4,1-8).
Ähnlich geht es Joseph, dem Träumer, der von seinen Brüdern wegen
der Liebe des Vaters und wegen seiner gottgesandten Träume beneidet
und schließlich verkauft wird (vgl. Gen 37).
Schließlich erwählt Gott
sich ein ganzes Volk auf Kosten der Anderen und verspricht sogar:
"Weil du in meinen Augen teuer und wertvoll bist und weil ich
dich liebe, gebe ich für dich ganze Länder und für dein Leben
ganze Völker." (Jes 43,4)
Zugleich bekennen wir
Gottes Willen, dass nicht nur einige, sondern „alle Menschen gerettet werden" (1Tim
2,4) und hoffen darauf, dass er am Ende der Tage die ganze Schöpfung
heimholt zu sich.
Worauf will ich mit all
dem hinaus?
Die Spannung zwischen der
Vorstellung einer Gleichheit aller Menschen vor Gott und den
biblischen Berichten einer eindeutigen Bevorzugung von Einzelnen ist
krass.
Mir jedenfalls macht diese
Spannung zu schaffen, vor allem angesichts der vielen besonderen
Aussagen über Maria, von der unbefleckten Empfängnis über die
jungfräuliche Geburt bis zu ihrer Aufnahme in den Himmel, die wir
heute feiern.
Auch im Evangelium
des Festes singt Maria davon, dass Gott Großes an ihr getan habe
und alle Geschlechter sie nun selig preisen würden (vgl. Lk
1,49.48).
Wie lässt sich diese
Spannung befriedigend auflösen?
Eine Lösung, die ich
(größere Unähnlichkeit vorausgesetzt) für diese Spannung in
meinem seelsorglichen Handeln gefunden habe, kam oben zur Sprache:
Der aktuell Anwesende ist der Wichtigste. Auch wenn es mir bei jenen,
die mir in irgendeiner Hinsicht ähnlicher sind, natürlich leichter
fällt.
Der Himmel steht uns offen! Blankensteinpark, Friedrichshain, Berlin, 2018. |
Vielleicht beruft auch
Gott zur Mitarbeit an seinem Werk Leute, die ihm ähnlich sind1
– Maria wird gezeichnet als eine junge Frau, die sich bereitwillig
einlässt auf die Geschichte Gottes mit ihr, als ein Engel ihr die
Botschaft von der Geburt des wunderbaren Kindes bringt und die sich
im heutigen Evangelium liebevoll um ihre schwangere Verwandte
kümmert.
Tatsächlich erscheint
Gott so im Neuen Testament: sich der Geschichte der Menschen öffnend
und sie liebevoll begleitend.
Darüber hinaus stehen,
wenn man genau hinsieht, Wohlwollen gegenüber allen und Bevorzugung
Einzelner auch gar nicht in Widerspruch zueinander.
Auch die Aufnahme Mariens
in den Himmel ist ja, wie betont werden muss, keine exklusive
Auszeichnung nur für sie, sondern wird allen Menschen verheißen –
aber zunächst nur von Maria ausgesagt.
Es ist dies die Konkretion
einer allgemeinen Hoffnung, sichtbar geworden an Maria, der Mutter
Jesu.2
Das vorausgesetzt, ist das
heutige Fest ein Bekenntnis zu Gottes Kraft und Größe, an die wir
Menschen nur ahnungsweise heranreichen: voller Liebe erhebt er eine
Einzelne zu sich, um diese seine Liebe weiterfließen zu lassen auf
alle.
1 Inspiriert
ist dieser Gedanke von J. Miles, Gott. Eine Biographie. 3. Aufl.
München 2000, 102, wo es zu Gott in der Josephsgeschichte heißt:
"Unterschwellig suggeriert der Text, daß Gott Joseph nicht
bevorzugt hätte, wenn er nicht wie Joseph wäre, und da Joseph als
liebevoll dargestellt worden ist, ist Gott vielleicht genauso. Wir
bewegen uns hier, unnötig zu sagen, nicht im Bereich von
Argumenten, sondern von Eindrücken." Trotzdem!
2 Vgl.zu
diesem Gedanken: A. Müller / D. Sattler, Mariologie. In: In: T.
Schneider (Hg.), Handbuch der Dogmatik 2. 2. Aufl. Düsseldorf 2002,
155-187, 186.