Samstag, 29. September 2018

Hand ab und alles gut? Notizen zum Sonntagsevangelium

"Wenn dich deine Hand zum Bösen verführt, dann hau sie ab; es ist besser für dich, verstümmelt in das Leben zu gelangen, als mit zwei Händen in die Hölle zu kommen". (Mk 9,43)

Kunstpause.
Durchatmen.

Und dann: Was soll denn das?

Einfach ganz ruhig von vorne anfangen: Es geht um die Frage, wie mit Versuchungen umzugehen sei. Jesus ist da anscheinend radikal.

Ich höre so etwas bisweilen im Gefängnis: "Ich muss wirklich mal einen radikalen Schnitt machen!"

Donnerstag, 27. September 2018

Das schreckliche Schwanken. "Der Vogelgott" von Susanne Röckel

Ich wusste vorher nicht, was mich bei der Lektüre dieses Romans "Der Vogelgott"1 erwartet – aber ich wurde nicht enttäuscht.

Susanne Röckel hat in dunklen Farben die Geschichte dreier Geschwister gemalt, die in unterschiedlicher Weise einer geheimnisvollen Religion auf die Spur kommen.

Da ist zunächst Thedor, der jüngste der drei, der sonst nie etwas auf die Reihe bekommt. Ausgerechnet er macht sich auf den Weg in die weitgehend unbekannte Region der Aza, um dort humanitäre Hilfe zu leisten – verführt durch einen faulig riechenden und doch charismatischen Unbekannten, der ihm den Eindruck vermittelt hatte, gerade er sei dort besonders vonnöten. In der Fremde angekommen scheint es zunächst, als sei er vergessen worden.

Mittwoch, 26. September 2018

Cosmas und Damian – Heilung ist unentgeltlich

Im Evangelium (Lk 9,1-10) am Fest der heiligen Ärzte Cosmas und Damian lesen wir, dass Jesus seine Jünger losschickt, um zu heilen. Drei Gedanken dazu.

1 Christentum bedeutet Heilung
Gott will, dass wir heil werden. Und zwar an Seele und Leib.
Dazu sendet er die Christen, damit sie in seinem Namen Heilung und Heil wirken.
Denn es ist seit dem Beginn Teil der christlichen Botschaft und Praxis, auch für die körperliche Gesundheit anderer zu sorgen.

Samstag, 22. September 2018

Kinder in die Mitte! Von Kind- und Vatersein. Von Vertrauen und Verantwortung.

1. "Jesus stellte ein Kind in ihre Mitte und nahm es in die Arme" (Mk 9,36)
Dieser zentrale Satz aus dem Evangelium des Sonntags (Mk 9,30-37) lässt bei manch einem die Alarmglocken schrillen.
Denn die Rede davon, dass eine religiöse Autorität ein Kind in die Arme nimmt, hat in der katholischen Kirche ihre Unschuld verloren. Seit erneut Berichte über die sexuellen Übergriffe durch katholische Geistliche in den USA und in Deutschland bekannt wurden, ist das religiöse Sprechen über Kinder eine heikle Sache geworden.
Jedenfalls tue ich mich schwer, hier fromme Gedanken zu diesem Thema zu verkünden.

Viel Schatten durch das Licht.
Jakobskirche, Stralsund, 2018.
Denn ich bin Mitarbeiter einer Institution, die über Jahre und Jahrzehnte hinweg das eigene Ansehen über den Schutz und die Würde der Opfer sexueller Gewalt gestellt hat. Durch ständiges Wegsehen und systematische Vertuschung, durch klammheimliche Versetzungen der Täter und die Beschimpfung der Aufklärer als Nestbeschmutzer hat die katholische Kirche sich oft genug als unwillens und unfähig erwiesen, dem Verbrechen in ihrer Mitte ein Ende zu machen. Das Leiden der Opfer von sexuellen Übergriffen ist nun nicht mehr ungeschehen zu machen.

Was aber möglich ist: Den Opfern nun endlich zuzuhören und zu erfahren, was durch den Missbrauch zerstört worden ist.
Dann muss es um Gerechtigkeit gehen: Täter müssen klar benannt und zur Rechenschaft gezogen werden, soweit dies noch möglich ist.
Schießlich die Frage nach den Strukturen: Beschwerdewege und Schutzmechanismen sind inzwischen in vielen Teilen der Kirche etabliert und es ist zu hoffen, dass damit auch ein Mentalitätswandel einhergegangen ist. Aber reicht das? Papst Franziskus hat den Klerikalismus, also die Überhöhung geistlicher Amtsträger, als Ursache angeprangert. Auch die kirchliche Sexualmoral, die Hierachien, die undurchsichtigen Versetzungen tragen ihren Teil bei.

Wie dem auch sei: Meine Kirche hat vor dem Anspruch Jesu kläglich versagt, denn nicht die Sorge für die Kinder stand im Zentrum, sondern ihr eigener Schutz. Verantwortungslosigkeit pur! Dieses Versagen müssen wir heute mit Trauer und Scham erkennen.

Aber es ist eine zwiespältige Sache, als Mitglied der Kirche irgendwie sich selbst und dann doch nicht sich selbst anzuklagen, da ich ja persönlich oft genug gar keinen Einfluss auf solche Dinge habe.

2. "Wer ein Kind aufnimmt, der nimmt mich auf" (Mk 9,37)
Deshalb will ich den Blick von der heutigen Situation zurück auf Jesu Intention lenken:
Jesus war voller Ehrfurcht und Wertschätzung gegenüber den Kindern.
Er stellte sie bisweilen als religiöse Vorbilder hin: "Wer das Reich Gottes nicht so annimmt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen." (Lk 18,17) Und das tut er in einer Zeit, als der Kitsch von Babys, die auf den großen Händen der Erwachsenen schlafen, undenkbar war, als noch keine Kinderbilder mit riesigen Kulleraugen existierten und noch kein süßes Jesuskind mit blonden Locken verehrt wurde.
Kinder waren keine Vorbilder, sie waren in den Augen seiner Zeitgenossen nur unfertige Erwachsene und reichlich defizitär. Dagegen rückt Jesus ihre Offenheit für Gott und sein Wirken ins Zentrum.

Heute nun geht er noch einen Schritt weiter und spricht von der engen Verbindung zwischen dem Aufnehmen eines Kindes und dem Aufnehmen Gottes selbst: "Wer ein solches Kind um meinetwillen aufnimmt, der nimmt mich auf; wer aber mich aufnimmt, der nimmt nicht nur mich auf, sondern den, der mich gesandt hat." (v37)

Kinder ändern die Lebensperspektive.
Inselkirche, Hiddensee, 2018.
Aber was soll das bedeuten: ein Kind "aufnehmen"?
In den seltensten Fällen laufen irgendwo Kinder auf der Straße herum, die man dann aufnimmt. Darum wird es also nicht gehen.

Kinder zu haben aber bedeutet, bei aller Freude und Lockerheit, die sie ins Leben bringen können, in erster Linie Arbeit. Es ist ein mühevolles Tun, den eigenen Tagesrhythmus an einem Kind auszurichten, es mit Geduld an Hygiene und Essen heranzuführen, vollgekackte Windeln zu wechseln, in der Krankheit und bei jedwedem Geschrei ruhig und geduldig zu bleiben, und nicht zuletzt die Balance zu finden zwischen nachsichtiger Liebe und den Regeln.
Diese Mühe muss man, wenn ein Kind erst einmal da ist, einfach auf sich nehmen, denn ohne die liebevolle Sorge kann ein Kind nicht leben.

Eindrucksvoll zeigt das der aktuelle Roman "Neujahr" von Juli Zeh, in dem sich dem Familienvater Henning im Urlaub die schreckliche Erfahrung des Verlassenseins wieder ins Gedächtnis drängt. Vor vielen Jahren waren seine Eltern beim Urlaub auf Lanzarote am Morgen plötzlich aus dem Ferienhaus verschwunden gewesen und hatten den Vierjährigen mit seiner zwei Jahre jüngeren Schwester allein gelassen. Die Autorin beschreibt aus der Sicht des zunächst besonnen agierenden Henning, den immer wieder und immer stärker die Panik anfällt, bis ihn die ungeheure Verantwortung, in die er urplötzlich gestellt ist, fast umwirft, einen verzweifelten Kampf ums Überleben und die sinnlose Suche nach einem Sinn der Verlorenheit.
Kindliche Überforderung und die völlige Unfähigkeit, in dieser haltlose Situation einen Halt zu finden, haben ihre traumatisierenden Spuren in seinem Leben als Ehemann und Vater hinterlassen. Es ist eine dem eben genannten Missbrauch verwandte Form der Traumatisierung.

Mich hat dieser Roman völlig fertig gemacht – und zugleich vollends fasziniert. Denn er zeigt (neben vielen anderen Dingen) aus verschiedenen Perspektiven, wie unabdingbar wichtig die elterliche Sorge für das Wohl eines Kindes ist.

Wenn Jesus nun dazu auffordert, Kinder aufzunehmen, dann geht es genau um diese Verantwortung, in der Erwachsene gegenüber Kindern stehen. Dasein, sich kümmern, liebevoll mitgehen und zeigen, dass sie nicht allein sind. Das ist ein Dienst, bei dem man selbst nicht an erster Stelle steht.
Insofern gehört der Schutz von Kindern zum Zentrum des Christlichen!

3. "Vater unser im Himmel" (Mt 6,9)
Zugleich ist diese Haltung, religiös gesprochen, die Art von Väterlichkeit, die wir auch von Gott als unserem himmlischen Vater erwarten dürfen.

Hier kreuzen sich nämlich die theologischen Linien: Einerseits dürfen wir uns vertrauensvoll als gesegnete Kinder Gottes fühlen und ihn im Vaterunser als unseren Vater ansprechen. Andererseits sind wir in die Pflicht genommen, Kindern verantwortlich und dienend zu begegnen.
Beide inneren Haltungen, die des vertrauenden Kindes und die des verantwortlichen Erwachsenen, haben Platz in uns und beide können uns zu dem einen Ziel führen: dass wir Gott näher kommen.

Denn das ist ja das Ziel des Evangeliums: Jesus will zeigen, auf welchem Wege wir Gott begegnen können.
Zusammengefasst lässt sich aus dem bisher Genannten verallgemeinernd sagen, dass wir Gott begegnen können, wenn wir Verantwortung übernehmen, wenn wir dienen, wenn wir nicht uns selbst an erste Stelle setzen.
(Entgegengesetzt also zu dem Verhalten, wie es Priester und Bischöfe im Zuge des Missbrauchs und des Umgangs mit dem Missbrauch an den Tag legten – bzw. verschleierten.)

Darauf deutet auch der andere wichtige Satz des Evangeliums hin: "Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein." (v35)

Das eben Erwähnte findet sich darin wieder – und noch mehr.
Der Satz erinnert nämlich daran, dass die Werte, von denen ich eben sprach, nicht selbstverständlich, nicht leicht zu leben und schon gar nicht populär sind. Denn sie zu leben bedeutet, Abstriche zu machen, nicht zu drängeln, runterkommen vom eigenen hohen Ross.

Den Verantwortlichen in der Kirche stünde das in diesen Zeiten gut an. Papst Franziskus geht nach meiner Ansicht in vielen Bereichen schon mit einem guten Beispiel voran.

Aber auch alle anderen Christen, die Gott als Vater anrufen, sagen mit dieser Anrede Gottes, dass sie selbst nicht auf dem ersten Platz stehen. Sondern dass sie ihm im Gebet ihr Leben anvertrauen – die Verherrlichung seines Namens, das tägliche Brot, die eigene Schuld, die Rettung vor den Versuchungen und allem Bösen. Wer so betet, stellt sich selbst nicht in die erste Reihe.

So kann das Beten des Vaterunsers uns vielleicht eine gute Erinnerung sein an das, was uns das Evangelium auträgt:
Zu Gott als Vater sprechen bedeutet auch, auf den Schutz der Schwächsten zu achten. Es bedeutet, sich nicht nach vorn zu stellen, sondern Verantwortung zu übernehmen und zu dienen.

Blick in Abgründe / Blick nach draußen.
Heimvolkshochschule Seddiner See, 2016.

Montag, 17. September 2018

"Ihr Gesicht war mit Staub bestreut" Hildegard von Bingen über die Schande der Kirche.

Um 1170 schrieb die heutige Tagesheilige Hildegard von Bingen an Abt Werner von Kirchheim von einer Vision der Kirche in der Gestalt einer Frau.
Ihre Beschreibung der Kirchenverschmutzung durch ihre eigenen Amtsträger passt ganz gut zur heutigen Lage.
Hier ein Auszug:

Samstag, 15. September 2018

Hohle Bekenntnisse. Oder: Das Evangelium als Religionskritik.

Petrus hat es wirklich nicht leicht.
Da ist er nun der Erste aus dem Kreis der Jünger, der ausspricht, was allen auf den Lippen brennt – und dann ist sein nächster Schritt gleich ein solcher Patzer!

Der Hergang des Sonntagsevangeliums (Mk 8,27-35) ist schnell erzählt: Als Jesus seine Jünger fragt, für wen ihn die Leute halten, zählen sie ein paar Namen auf, die im Rahmen des religiös Bekannten und Erwartbaren bleiben. Mit der weiteren Frage, wer er für sie selbst ist, bekommt Petrus seine Chance: Jetzt kann er zeigen, was er begriffen hat und wie groß sein Vertrauen in Jesus ist – "Du bist der Messias!" (v29).

Dienstag, 11. September 2018

Die gekrönte Last

Heute habe ich eine kurze Andacht für die Pflegekräfte eines Altenheimes gehalten.
Nach einer kurzen Stilleübung waren mir folgende Gedanken wichtig:

Sie werden tagtäglich durch viele Aufgaben in Anspruch genommen. In der Familie und im Haushalt, aber auch hier bei der Arbeit mit den Senioren. Gerade diese Arbeit erfährt nicht viel Dankbarkeit und Anerkennung, und der Wert der Pflege wird in unserer Gesellschaft oftmals nur unzureichend gewürdigt.
Wenn dazu auch noch ein besonderer Schicksalsschlag wie eine Krankheit oder ein persönlicher Verlust kommt, dann kann es sein, dass man das Leben als eine Last empfindet, die man nicht mehr tragen will.
Symbolisch habe ich Ihnen dafür dieses 100kg-Gewicht mitgebracht.

Samstag, 8. September 2018

"Ich atme nicht ohne die Stimme" Hilde Domin und der Atem des Lebens

Atem trägt Leben weiter.
Linum, 2018.
"Deine Stimme, die mich umarmt hat,
es ist viele Tage her,
ich habe jeden Tag
ein kleines Stück von ihr gegessen,
ich habe viele Tage
von ihr gelebt."

Mittwoch, 5. September 2018

Wenn ich den Hass sehe. Einige Anmerkungen in eigener Sache

Mir fehlen die Worte angesichts der Geschehnisse in der Welt.

Wer diesen Blog etwas kennt, weiß, dass ich Wert lege auf Ausgewogenheit und Einordnung, auf die Berücksichtigung weiterer Perspektiven und das Einhegen von Polarisierungen.
Ich leiste es mir, keine Bücher zu verreißen und niemanden unnötig schlecht darzustellen ohne mich dabei zu verbiegen. 

Sicher kommen auch in mir intensive Gefühle hoch zum verbrecherischen Umgang mit Missbrauch in der katholischen Kirche, wie derzeit in den USA zu beobachten. Oder zu den Chemnitzer Hetzjagden auf nicht „bio-deutsch" aussehende Menschen während der letzten Woche. Oder zu den Grabenkämpfen im Vatikan, zu Trumps Entfesselung neuer Konfliktherde in der Welt, zur Tragödie der Flüchtlingsschiffe vor den Häfen Europas...

Samstag, 1. September 2018

Es ist das Herz, das zählt! Jesus, Chemnitz und das Händewaschen

"...von innen, aus dem Herzen der Menschen, kommen die bösen Gedanken, Unzucht, Diebstahl, Mord, Ehebruch, Habgier, Bosheit, Hinterlist, Ausschweifung, Neid, Verleumdung, Hochmut und Unvernunft. All dieses Böse kommt von innen und macht den Menschen unrein."
(aus dem Sonntagsevangelium, hier Mk 7,21-23)

Ein Text, der wie gemacht ist für diese Tage, in denen Deutschland nach den Ausschreitungen in Chemnitz in Aufruhr ist.
Es gibt keinen plausiblen Grund, der die Attacken auf den Rechtsstaat, die Toleranz sowie unbeteiligte Personen und Polizisten rechtfertigte. Denn neben Gebrüll, pauschalen Schuldzuweisungen, rassistischen Ausfälle und Wut auf "die da oben" war sogar echte Sorge zu vernehmen – aber Ausdruck der Trauer um einen Getöteten, wie anfangs noch behauptet, waren die pogromartigen Szenen ganz sicher nicht.

Dienstag, 28. August 2018

Kompass, Schere und Verbandszeug. Impuls zum Schuljahresbeginn

Meine Tätigkeit im Jugendbildungshaus des Erzbistums bringt es mit sich, dass ich regelmäßige Andachten und Impulse für Kennenlernfahrten gestalte.
Es folgt das Beispiel eines kurzen Impulses im Anschluss an eine biblische Lesung aus dem Matthäusevangelium (ähnlich hier). Der Einfachheit halber wird die Lesung hier stückweise dargestellt.

Samstag, 25. August 2018

Von zwei Gründen, kein Christ (mehr) zu sein.

Es gibt genügend Gründe, warum man der Meinung sein kann, es sei besser, kein Christ zu sein.
Ich fasse heute einmal zwei Beweggründe ins Auge, die weiter voneinander entfernt nicht sein können.
Es mögen nicht die gängigsten Gründe sein, aber sie sind auch nicht gänzlich ohne Relevanz.
1.
Derzeit schauen sehr viele US-Amerikaner und viele Menschen weltweit auf die ungeheuerlichen Taten von Priestern und Ordensleuten in den USA, die Kinder und Jugendliche zum Teil schwer sexuell missbraucht haben – und sie hören von der jahrelangen Vertuschung durch die Verantwortlichen.1

Dieses Thema raubt mir beim Schreiben alle Kraft.
Ich will keine Entsetzlichkeiten ausbreiten und mir wird schlecht, wenn ich lese, was genau passiert ist. Aber ich glaube, dass es wichtig ist, auszusprechen, in welcher Weise Kirchenleute hier auf die verschiedensten Weisen schuldig geworden sind.

Donnerstag, 23. August 2018

"Für Anne". Leonard Cohen vermisst eine Verlorene

Wie viel größer wird die Liebe plötzlich, wenn sie vorbei ist!
Wie viel inbrünstiger das Gefühl in dem Moment, in dem die Fülle gerade durch die Finger rinnt!

Leonard Cohen, der begnadete Songwriter, scheint das gespürt zu haben. Und er hat es in Worte gefasst!
Denn neben den bekannten Songs sind von ihm auch eine Reihe nicht vertonter Gedichte erschienen, von denen es einige wert sind, als Miniaturen im Gedächtnis zu bleiben.

Samstag, 18. August 2018

Der Laientheologe und die eucharistische Kirche. Ein Konfliktfeld in der Praxis

Vor ein paar Tagen las ich in der Herder-Korrespondenz ein Interview mit dem Bostoner Erzbischof Seán Patrick O'Malley, der davon sprach, dass wir als katholische Kirche "eine eucharistische Kirche" seien.
Ohne es an dieser Stelle zu explizieren, bezieht er sich damit auf eine schon bei Paulus bezeugte1 und seit der frühen Kirche des zweiten Jahrhunderts gewachsene Theologie, derzufolge der Ursprung der Kirche als lebendiger Leib Christi in der Feier des Mahles um den eucharistischen Leib Christi liegt. Das Zweite Vatikanische Konzil weist ebenso darauf hin wie Johannes Paul II. in seiner letzten Enzyklika mit dem sprechenden Namen "Ecclesia de Eucharistia" (2003), der wie üblich ihrem ersten Satz entnommen ist: "Die Kirche lebt von der Eucharistie."2

Mir ist diese Art des Herangehens an Kirche und Kult sehr einleuchtend, wie ich auch hier schon dargestellt habe. Durch die Mitfeier der Messe wird für mich im Idealfall eben nicht nur die Gemeinschaft mit Christus, sondern auch mit den anderen Mitfeiernden spürbar.

Dienstag, 14. August 2018

Wen bevorzuge ich als Gefängnisseelsorger? Gedanken zu Mariä Himmelfahrt

Von Zeit zu Zeit werde ich gefragt, wie ich das denn mache bei meinen Gesprächen im Gefängnis. Ob ich nicht ab und zu der Meinung sei, ich hätte nun schon wieder dasselbe gehört wie gestern. Ob ich auch wirklich jede persönliche Tragik individuell würdigen könne. Und überhaupt, wie es denn sei, wenn so viele verschiedene Leute kommen und alle ernst- und wahrgenommen werden wollen – das ginge doch sicher nicht?!

Himmelwärts mit Hindernissen.
Vogelnetze, Zoologischer Garten, Berlin, 2017.
Tatsächlich muss ich sagen, dass das von meiner Tagesform abhängig ist.
Aber im Großen und Ganzen versuche ich, bei jeder Person, die mir gegenüber sitzt, ganz anwesend zu sein und ihr mit größtmöglichem Wohlwollen zu begegnen.
Ich kann und will nicht unterscheiden, wen ich mehr und wen ich weniger ernst nehme.
Kurz: Die wichtigste Person ist immer die gerade anwesende.

Wenn wir (bei aller bleibenden größeren Unähnlichkeit der Vergleichspartner in dieser Sache!) auch Gott als Seelsorger aller Menschen ansehen, der noch dazu immer bei jeder Person anwesend ist, hieße diese Aussage, dass ihm jede Person die wichtigste ist.
Das passt natürlich wunderbar zu grundlegenden Aussagen über Gott. Und auch dem modernen Bewusstsein für Gerechtigkeit kommt es entgegen.

Wie aber passt es zusammen mit dem, was die Kirche über Maria sagt, die der katholische Glaube mit so viel wunderbaren Wendungen und Namen besingt?
Man nehme nur die Marienlieder:
Maria ist dort die Gnadenreiche, Makellose, Engelsgleiche, Wunderschön prächtige, hohe und mächtige, liebreich holdselige himmlische Frau, Mutter der Barmherzigkeit, Patronin voller Güte, Pforte der Seligkeit, ...

Von Gott her geschaut scheint es da eine eindeutige Bevorzugung Mariens vor anderen Menschen zu geben.

Und bei allem Idealismus gibt es selbstverständlich auch für Seelsorger Personen, die einem näher sind als andere. Vielleicht würde ich sie nicht sooo ausufernd loben, aber die Unterschiede sind schon deutlich da, ob ich das nun will oder nicht.
Mit dem einen komme ich leichter ins Gespräch, mit anderen teile ich gemeinsame Erfahrungen (wie das Vatersein), andere kommen aus der gleichen Gegend wie ich...

Dieser Ungleichheit entkommt man auch bei Gott nicht.
Schon im Alten Testament zeigt sich, dass Gott recht wählerisch ist und manche Menschen vor anderen eindeutig bevorzugt – Abels Opfer nimmt er an, Kains will er nicht – was für Abel zum Verhängnis wird (vgl. Gen 4,1-8). Ähnlich geht es Joseph, dem Träumer, der von seinen Brüdern wegen der Liebe des Vaters und wegen seiner gottgesandten Träume beneidet und schließlich verkauft wird (vgl. Gen 37).
Schließlich erwählt Gott sich ein ganzes Volk auf Kosten der Anderen und verspricht sogar: "Weil du in meinen Augen teuer und wertvoll bist und weil ich dich liebe, gebe ich für dich ganze Länder und für dein Leben ganze Völker." (Jes 43,4)
Zugleich bekennen wir Gottes Willen, dass nicht nur einige, sondern „alle Menschen gerettet werden" (1Tim 2,4) und hoffen darauf, dass er am Ende der Tage die ganze Schöpfung heimholt zu sich.

Worauf will ich mit all dem hinaus?
Die Spannung zwischen der Vorstellung einer Gleichheit aller Menschen vor Gott und den biblischen Berichten einer eindeutigen Bevorzugung von Einzelnen ist krass.
Mir jedenfalls macht diese Spannung zu schaffen, vor allem angesichts der vielen besonderen Aussagen über Maria, von der unbefleckten Empfängnis über die jungfräuliche Geburt bis zu ihrer Aufnahme in den Himmel, die wir heute feiern.
Auch im Evangelium des Festes singt Maria davon, dass Gott Großes an ihr getan habe und alle Geschlechter sie nun selig preisen würden (vgl. Lk 1,49.48).

Wie lässt sich diese Spannung befriedigend auflösen?
Eine Lösung, die ich (größere Unähnlichkeit vorausgesetzt) für diese Spannung in meinem seelsorglichen Handeln gefunden habe, kam oben zur Sprache: Der aktuell Anwesende ist der Wichtigste. Auch wenn es mir bei jenen, die mir in irgendeiner Hinsicht ähnlicher sind, natürlich leichter fällt. 

Der Himmel steht uns offen!
Blankensteinpark, Friedrichshain, Berlin, 2018.
Vielleicht beruft auch Gott zur Mitarbeit an seinem Werk Leute, die ihm ähnlich sind1 – Maria wird gezeichnet als eine junge Frau, die sich bereitwillig einlässt auf die Geschichte Gottes mit ihr, als ein Engel ihr die Botschaft von der Geburt des wunderbaren Kindes bringt und die sich im heutigen Evangelium liebevoll um ihre schwangere Verwandte kümmert.
Tatsächlich erscheint Gott so im Neuen Testament: sich der Geschichte der Menschen öffnend und sie liebevoll begleitend.

Darüber hinaus stehen, wenn man genau hinsieht, Wohlwollen gegenüber allen und Bevorzugung Einzelner auch gar nicht in Widerspruch zueinander.
Auch die Aufnahme Mariens in den Himmel ist ja, wie betont werden muss, keine exklusive Auszeichnung nur für sie, sondern wird allen Menschen verheißen – aber zunächst nur von Maria ausgesagt.
Es ist dies die Konkretion einer allgemeinen Hoffnung, sichtbar geworden an Maria, der Mutter Jesu.2

Das vorausgesetzt, ist das heutige Fest ein Bekenntnis zu Gottes Kraft und Größe, an die wir Menschen nur ahnungsweise heranreichen: voller Liebe erhebt er eine Einzelne zu sich, um diese seine Liebe weiterfließen zu lassen auf alle. 



1   Inspiriert ist dieser Gedanke von J. Miles, Gott. Eine Biographie. 3. Aufl. München 2000, 102, wo es zu Gott in der Josephsgeschichte heißt: "Unterschwellig suggeriert der Text, daß Gott Joseph nicht bevorzugt hätte, wenn er nicht wie Joseph wäre, und da Joseph als liebevoll dargestellt worden ist, ist Gott vielleicht genauso. Wir bewegen uns hier, unnötig zu sagen, nicht im Bereich von Argumenten, sondern von Eindrücken." Trotzdem!
2   Vgl.zu diesem Gedanken: A. Müller / D. Sattler, Mariologie. In: In: T. Schneider (Hg.), Handbuch der Dogmatik 2. 2. Aufl. Düsseldorf 2002, 155-187, 186.