Dienstag, 4. Dezember 2018

Ankunftszeit 4 – Verzweifelt in "Der Reisende" von Ulrich Alexander Boschwitz

Es ist eine erschütternde Abstiegsgeschichte, die der junge Autor Ulrich Alexander Boschwitz 1938 niederschreibt (2018 erstmals erschienen). Wie viele deutsche Juden erlebt auch sein Romanheld Otto Silbermann die Erschütterungen in den ersten Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft als radikalen Umsturz seines bisher so geordneten Lebens. Nach einigen Tagen der Angst ist der Kaufmann kurz in seine von einem SA-Trupp durchsuchte Wohnung zurückkehrt, um einige Dinge an sich zu nehmen.

Kein Bleiben...?
Fassade des Willy-Brand-Hauses, Berlin-Kreuzberg 2015.
"Er war im Schlafzimmer angelangt und ließ sich auf sein Bett fallen. Ich muss fort, dachte er und schloss die Augen. 'Ach, ich möchte bleiben, schlafen ... Und nun zur Grenze? Aber dem bin ich niemals gewachsen. Das kann ich doch gar nicht. Heimlich über die Grenze...' Er schüttelte sich bei dem Gedanken. 'Was wollen die Leute eigentlich alle von mir?', fragte er dann leise. "Ich will doch nichts, als in Ruhe leben, mein Brot verdienen ... Die Grenze! Ich und die Grenze – mein Gott!'
Er sprang auf!"1

Es ist klar, dass Silbermann hier nicht bleiben kann.
Verzweiflung und Müdigkeit führen einen inneren Kampf in ihm, und doch spürt er genau: Die Ankunft ruft schon nach Aufbruch. Hier ist kein Bleiben.

Das Gefühl der Gefahr ist uns Heutigen möglicherweise unbekannt, aber das Gefühl des Gehetztseins von einem Ort zum nächsten kennen die meisten von uns.
Und der Advent soll anders sein – aber er kippt doch oft genug um in Hast. Nicht Ankunft, sondern Flucht würde er in manchen Fällen richtiger lauten.

Die Anregung für heute: Welcher Ort hilft mir, um ruhig zu werden? Wo kann ich mich fallen lassen und entspannen?



Mehr zu U.A. Boschwitz' Roman findet sich hier.


1   U.A. Boschwitz, Der Reisende. Stuttgart 2018 (Original 1938), 105f.

Montag, 3. Dezember 2018

Ankunftszeit 3 – Störungsfrei in "Die Kieferninseln" von Marion Porschmann

Der Dozent Gilbert reist auf einen eigenartigen Traum hin spontan nach Japan. Im Verlauf von Marion Porschmanns Roman macht er sich in den Spuren des legendären Dichters Bashō auf den Weg in Richtung der von diesem besungenen Kieferninseln.
Doch zunächst kommt er erst einmal an:

Sonntag, 2. Dezember 2018

Ankunftszeit 2 – Zurückgezogen in "Wie hoch die Wasser steigen" von Anja Kampmann

Kampmanns Roman ist ein Roadmovie in fast lyrischer Sprache, eine Geschichte mit vielen Stationen, doch ohne wirklich Ankünfte: Nach dem Unfalltod seines Freundes verlässt Waclaw die Bohrinsel, auf der er gearbeitet hat und macht sich auf den Weg in ein neues Leben.
Am Ende kehrt der traurige Held in die Stadt seiner Kindheit Bottrop zurück:

Samstag, 1. Dezember 2018

1. Adventssonntag – Bildmeditation zu "Richtet euch auf und erhebt euer Haupt"

Aus dem Evangelium am Ersten Adventssonntag: 

Wenn ihr den Menschensohn mit großer Macht und Herrlichkeit auf einer Wolke kommen seht, dann richtet euch auf und erhebt eure Häupter, denn eure Erlösung ist nahe. (vgl. Lk 21,28)

Ankunftszeit 1 – Geglückt in "Mogador" von Martin Mosebach

Martin Mosebachs Roman erzählt die Geschichte einer überstürzten Flucht. Der Bankangestellte Patrick Elff ist voller Angst vor den juristischen Folgen seiner Finanzgeschäfte aus dem Fenster des Polizeipräsidiums gesprungen, hat das nächstbeste Flugzeug genommen und ist nach Marokko geflogen.

Donnerstag, 29. November 2018

"Ankunftszeit" – Blog-Adventskalender in diesem Jahr

Dass „Advent“ auf Deutsch „Ankunft“ heißt, hat sich an vielen Stellen herumgesprochen.
Der ganze Advent feiert Gottes Ankunft und bereitet zugleich vor auf sie.

Darum lautet das Thema des Adventskalenders auf meinem Blog in diesem Jahr „Ankunftszeit“.
Wie schon im letzten Jahr wird an jedem Tag ein kurzer Impuls zu diesem Thema veröffentlicht, in diesem Jahr steht jedes Mal ein Ausschnitt aus einem (mehr oder weniger) aktuellen Roman im Zentrum.

Die Palette ist breit gefächert:
Wie sieht es aus, wenn einer ankommt? Was geschieht mit dem, der kommt? Was mit denen, bei denen er ankommt? Was geschah vorher?
Mal liegt der Fokus auf dem Weg und seiner Beschwerlichkeit vor der Ankunft, mal beim Ankommen selbst. Mal liegt er auf den Gefühlen, der Vorfreude oder der Furcht. Mal geht es um die Person, die ankommt, mal um die Personen, bei denen jemand ankommt.

Sonntag, 25. November 2018

Machtlos glücklich und trotzdem DIE Zukunft. Christkönigspredigt

0. Überblick über Thema und Lesungen
Als Pius XI. das heutige Fest einführte, war die Monarchie in den meisten Ländern Europas schon Geschichte. Sieben Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs, 1925, stellte dieser Papst zum Jubiläum eines der wichtigsten Konzilien der Antike (1600 Jahre Konzil von Nizäa) Jesus Christus als König in den Mittelpunkt.1 Königswürde für den Gottessohn, das scheint sehr einleuchtend zu sein.

Aber die dazu passenden biblischen Lesungen weisen in sehr verschiedene Richtungen und sind alles andere als klar.

Samstag, 24. November 2018

„Pamiętaj o mnie!“ Radio-Worte auf den Weg

In dieser Woche bin ich von Montag bis Samstag jeweils dreimal mit kurzen spirituellen Beiträgen aus dem Gefängnisalltag im Radio zu hören: 5.50 Uhr auf Radio Berlin 88.8; 6:45 Uhr auf Kulturradio; 9:12 Uhr auf Antenne Brandenburg. 
Hier die (ungefähr so vorgetragene) Textfassung von heute:

Das Gefängnis Plötzensee, in dem ich als Seelsorger arbeite, hat verschiedene Hafthäuser, die durch eine mehrfach unterteilte große Grünfläche miteinander verbunden sind. Man kann sich also auch über weite Entfernungen sehen. Aber nicht immer kann man auch zueinander kommen. So werden wichtige Nachrichten gern mal über den Hof geschrien, natürlich in verschiedenen Sprachen.

Freitag, 23. November 2018

High five! Radio-Worte auf den Weg

In dieser Woche bin ich von Montag bis Samstag jeweils dreimal mit kurzen spirituellen Beiträgen aus dem Gefängnisalltag im Radio zu hören: 5.50 Uhr auf Radio Berlin 88.8; 6:45 Uhr auf Kulturradio; 9:12 Uhr auf Antenne Brandenburg. 
Hier die (ungefähr so vorgetragene) Textfassung von heute:

In Berliner Gefängnissen sitzen Menschen aus sehr vielen Nationen und mit den unterschiedlichsten Muttersprachen. Viele der Inhaftierten nichtdeutscher Herkunft können sich durch ihren Alltag in der Haft inzwischen ganz gut auf Deutsch ausdrücken.

Aber nicht alles möchte man auch in einer fremden Sprache sagen.
Für sehr persönliche oder gar peinliche Sachen verwenden viele Menschen gern die Sprache ihrer Herkunft, eben ihre eigene Sprache.

Donnerstag, 22. November 2018

Auf Seiten der Täter. Radio-Worte auf den Weg

In dieser Woche bin ich von Montag bis Samstag jeweils dreimal mit kurzen spirituellen Beiträgen aus dem Gefängnisalltag im Radio zu hören: 5.50 Uhr auf Radio Berlin 88.8; 6:45 Uhr auf Kulturradio; 9:12 Uhr auf Antenne Brandenburg. 
Hier die (ungefähr so vorgetragene) Textfassung von heute:

Manchmal komme ich mit meiner Arbeit als Gefängnisseelsorger an die Sympathie-Grenze. Denn zu meiner Aufgabe gehört es, Mitgefühl für Menschen aufzubringen, die bisweilen Furchtbares getan haben. Das gelingt mir mal mehr, mal weniger. 

Vor einiger Zeit beispielsweise traf ich einen Mann, der mir nach einer Reihe von Gesprächen eröffnet hat, dass er wegen des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen in Haft ist. Da er auf mich zuvor einen sehr freundlichen und sympathischen Eindruck machte, war ich einigermaßen geschockt.

Mittwoch, 21. November 2018

„Sie verurteilen mich nicht!“ Radio-Worte auf den Weg

In dieser Woche bin ich von Montag bis Samstag jeweils dreimal mit kurzen spirituellen Beiträgen aus dem Gefängnisalltag im Radio zu hören: 5.50 Uhr auf Radio Berlin 88.8; 6:45 Uhr auf Kulturradio; 9:12 Uhr auf Antenne Brandenburg. 
Hier die (ungefähr so vorgetragene) Textfassung von heute:

Als Gefängnisseelsorger bin ich während der Aufschlusszeiten oft auf den langen Gängen der Hafthäuser unterwegs. Da ergeben sich manchmal gute Gespräche mit Leuten, die nicht von sich aus in den Gottesdienst kommen. Die lockere Atmosphäre auf dem Gang gibt uns Gelegenheit, ganz frei zu plaudern und uns über dies und das auszutauschen.

Besonders eindrücklich ist mir eine Begegnung mit einem muslimischen Inhaftierten im Gedächtnis geblieben. Er interessierte sich sehr dafür, was ich als Seelsorger mache. Ich erklärte, dass ich in erster Linie aufmerksam zuhöre und versuche, das Problem meines Gegenübers gut zu verstehen. Dann könne ich gemeinsam mit ihm herausfinden, was für ihn hilfreich wäre. Als er das hörte, fragte er, ob auch er einmal zum Gespräch kommen kann.

Dienstag, 20. November 2018

„Ich kann doch nix machen!“ Radio-Worte auf den Weg

In dieser Woche bin ich von Montag bis Samstag jeweils dreimal mit kurzen spirituellen Beiträgen aus dem Gefängnisalltag im Radio zu hören: 5.50 Uhr auf Radio Berlin 88.8; 6:45 Uhr auf Kulturradio; 9:12 Uhr auf Antenne Brandenburg. 
Hier die (ungefähr so vorgetragene) Textfassung von heute:

Vor mir sitzt ein völlig verunsicherter Mann in meinem Alter. Er trägt Krankenhauskleidung und hat einen riesigen Verband am Kopf. In seinem Leben ist vieles schief gelaufen, von Drogensucht über den Verlust der Familie bis zu Obdachlosigkeit und Kleinkriminalität.

In meinen Gesprächen als Seelsorger im Haftkrankenhaus habe ich es häufig mit solchen vielfach gebrochenen Lebensgeschichten zu tun. In den meisten Fällen weiß ich auch keine Antwort auf die hilflosen Fragen meines Gegenübers. Im Gespräch versuchen wir zusammen herauszufinden, wie es weitergehen könnte.

Montag, 19. November 2018

Verwaist. Radio-Worte auf den Weg

In dieser Woche bin ich von Montag bis Samstag jeweils dreimal mit kurzen spirituellen Beiträgen aus dem Gefängnisalltag im Radio zu hören: 5.50 Uhr auf Radio Berlin 88.8; 6:45 Uhr auf Kulturradio; 9:12 Uhr auf Antenne Brandenburg. 
Hier die (ungefähr so vorgetragene) Textfassung von heute:

Wer eine Haft antreten muss, wird zu einem gewissen Grad zu einem Waisen, einem Einsamen. Und er hinterlässt Waisen in seinem persönlichen Umfeld außerhalb des Gefängnisses.[1]

Kinder verlieren ihre Väter, Schwestern ihre Brüder und Eltern ihre Söhne. Sie verschwinden zeitweise aus dem Leben ihrer Angehörigen. Denn zum Aufenthalt in einer Haftanstalt gehört naturgemäß die starke Einschränkung des Kontakts mit Familie, Bekannten und Freunden.

Samstag, 17. November 2018

Aufmerksam und erschüttert. Predigt über Apokalypse, Zeitzeichen und Missbrauch

Eigentlich finde ich es ein wenig lästig, dass wir jährlich diese apokalyptischen Texte (Mk 13,24-32) hören müssen, weil sich das Kirchenjahr dem Ende neigt und vor dem Advent diese Texte vorgesehen sind.
Aber ich will versuchen, aus diesen Texten das Beste für uns zu machen und ein paar Gedanken darlegen.

1. Blick auf einen schwierigen Text
Zunächst ist festzustellen, dass die Rede ist von einer Menge sichtbarer Zeichen – vor allem die natürliche Ordnung am Himmel scheint durcheinander zu geraten. Es geht um Sonnen- und Mondfinsternis, Kometenhagel und eine allgemeine Erschütterung aller Himmelskräfte.

Der Evangelist macht also einen riesigen Horizont auf und nimmt eine globale Perspektive ein, die an den Blick von Alexander Gerst aus der ISS erinnern, einen Blick, den wir mit den technischen und medialen Mitteln unserer Tage problemlos erreichen. Und wenn wir die Welt in diesem Jahr wahrnehmen – beispielsweise die Überflutungen in Indien, den Jahrhundertsommer mit seiner extremen Trockenheit, aktuell die Waldbrände in Kalifornien oder auch die menschengemachten Katastrophen wie den Krieg im Jemen oder die Flüchtlinge im Mittelmeer – dann sehen auch wir Erschütterungen in großer Zahl.

Freitag, 16. November 2018

Unechte Sicherheiten. Gianna Molinaris "Hier ist noch alles möglich"

Wie gut passt dieses Buch doch in unsere Zeit!
Allerorten versucht man, Dinge festzuzurren und greifbar zu machen, nationale und begriffliche Grenzen zu schließen, Fakten justiziabel zu formulieren und auf diesen Wegen die allerorten aufkommenden Ängste zu bändigen. Dabei benötigen wir doch gerade in unserer hochkomplexen Welt die Fähigkeit, nicht alles sofort einzutüten und wegzustecken, sondern Fragen auch mal offenzuhalten und die Unklarheit des Lebens auszuhalten.

Ich glaube, genau darum geht es in Gianna Molinaris Debütroman mit dem sprechenden Titel "Hier ist noch alles möglich".1
Die junge Frau, welche die Geschichte erzählt, beginnt gerade einen neuen Job als Nachtwächterin in einer Kartonfabrik. Obwohl die Fabrik bald schließen wird, soll noch ein angeblich auf dem Gelände aufgetauchter Wolf gefangen werden. Für den gibt es allerdings keine Beweise außer einer angeblichen Sichtung und sonst nur sehr spärliche Hinweise. Der Roman umkreist die Arbeit vor den Monitoren und an den Löchern des Zaunes, die Umgebung des Fabrikgeländes mit einem nahegelegenen Flughafen und erlaubt sich von Zeit zu Zeit kurze Abstecher auf ferne Inseln.