Vor genau zehn Jahren habe ich ein Auto beladen und bin mit meinen Sachen von St. Georgen in Frankfurt am Main nach Berlin gefahren.
Wegen einer Möbelspende, die abzuholen, und einem Mitfahrer, der abzuliefern war, führte der Weg über Bremen und Hamburg, was eine gewaltige Fahrt von knapp 900 km bedeutete.
Aber das war dann auch noch irgendwie zu schaffen. Nachdem ich so viel geschafft hatte.
Mich von so vielen Menschen, von so vielen möglichen Lebensperspektiven verabschiedet hatte und aus dem Jesuitenorden ausgetreten bin.
Am 01. Februar 2012 habe ich noch einmal neu angefangen.
Montag, 31. Januar 2022
Austritt – Rückblick nach zehn Jahren
Donnerstag, 27. Januar 2022
„Ohne Verbitterung, ohne Haß“ Etty Hillesum am Gedenktag der Opfer des NS
Die Verbrechen der Shoah und die enthemmten Grausamkeiten der Nationalsozialisten schreien zum Himmel. Und obwohl der heutige Tag lange schon als Gedenktag begangen wird, obwohl der Kampf gegen Antisemitismus und Menschenverachtung in Deutschland einen hohen Stellenwert haben, greifen doch Hass und Menschenfeindlichkeit immer neu um sich.
Wenn wir aber den Opfern der nationalsozialistischen Schrecken gerecht werden wollen, reicht es eben nicht aus, sich zu erinnern. Der Einsatz für Menschlichkeit und Toleranz ist Teil des Gedenkens.
Daran gemahnt auch ein Brief von Etty Hillesum aus dem Lager Westerbork bei Amsterdam vom 03.07.1943:
Montag, 24. Januar 2022
Solidarität mit der Initiative „Out In Church“
Heute zitiere ich mal mich selbst von meiner dienstlichen Website:
Mehr als 100 katholische LGBTQI*-Personen haben sich in einer gemeinsamen Initiative unter dem Motto „Out in Church“ geoutet und ihre sexuelle Identität öffentlich gemacht.
Es sind Zeugnisse, die mit großem Mut und bewegender Offenheit Hoffnung machen für eine Kirche, die offen ist für Vielfalt und Toleranz – anders als sie allzu oft erlebt wird.
Samstag, 22. Januar 2022
„… keine Kenntnis ...“ Viele Worte, trauriger Ertrag. Zum Münchener Gutachten vom 20.01.2022.
Ich hätte es gern anders gemacht und wollte zunächst mit einigen Worten von Betroffenen sexueller Übergriffe in der Kirche beginnen, ihrer Meinung exemplarisch Raum geben.
Aber ich habe gemerkt, dass ich mir nur ein Placebo gewünscht hätte, um mich besser zu fühlen, da ich mich im Folgenden doch auf die Täter fokussiere.
Das ist traurig, aber da ich keinen anderen Rat weiß, möchte ich es immerhin erwähnen.
Das Entsetzen und Erschrecken und der Zorn und Ärger über die Taten von Kirchenmännern sind – auch von Kirchenmännern – so oft geäußert, dass es schon kaum mehr zum Aushalten ist. Und viele haben das alles schon längst nicht mehr ausgehalten und sind gegangen.
Nun kommt die nächste Welle des Schreckens, dieses Mal aus München.
Samstag, 15. Januar 2022
Dein Wasser reicht gegen den Frust. Predigt zum Weinwunder in Kana (Joh 2,1-11)
Ich kann die Angst vor der Unzufriedenheit der Gäste förmlich spüren. Da sind das ganze Dorf und viele auswärtige Gäste zusammengekommen und wollen feiern. Sie wollen den tristen Alltag endlich mal für ein paar Stunden (oder Tage!) verlassen und es sich richtig gut gehen lassen.
Und dann ist der Wein alle. Das heißt, die Party wird bald vorbei sein.
Was muss das für ein Ärger für die Einladenden sein, wenn sogar schon bis zu den Gästen durchdringt, dass nicht mehr weitergefeiert werden kann! Was für eine Enttäuschung, was für ein Frust.
Aber wozu bei der biblischen Geschichte stehenbleiben?
Sonntag, 9. Januar 2022
„...während er betete, öffnete sich der Himmel…“ Taufe des Herrn als Hoffnungsbild
Jesus lässt sich taufen und wird von oben bestätigt. Als er betet, tut der Himmel sich auf, der Geist kommt herab, eine Stimme ertönt (Lk 3,15-16.21-22).
Wie oft wünschte ich mir eine solche Vergewisserung, während ich bete! Eine Stärkung im Glauben. Einen Kraftakt Gottes, der mir zeigt, wie es um mich steht, was er wirklich will und dass er an meiner Seite ist.
Aber so etwas gibt es selten oder gar nicht.
Wir normalen Christ*innen sind zwar auch getauft, aber die Bestätigung bleibt oftmals aus. Wenn wir beten, fühlt es sich oft an, als würden wir ins Leere sprechen. Was unser Gebet wirklich bringt – und ob es etwas bringt, bleibt unklar. Ich selbst fühle mich unwohl mit manchen vorgeprägten Formulierungen. Wenn ich selbst formuliere, bleibe ich hinter meinen Erwartungen zurück oder fühle gar nicht, was ich eigentlich meinte.
Mittwoch, 5. Januar 2022
Sie brauchen einander! Provokation der Drei Könige
So unglaublich es klingt: Der böse König Herodes und die Weisen aus dem Morgenland brauchen einander.
Als die Besucher aus dem Osten in Jerusalem auftauchen, fragen sie: „Wo ist der neugeborene König der Juden?“ (Mt 2,2)
Nachdem Israels Schriftgelehrte auf Geheiß des entsetzten Königs Herodes in der Bibel recherchiert und Betlehem als Ort der Geburt des Gegen-Königs identifiziert hatten, ließ sich Herodes von den Weisen heimlich „sagen, wann der Stern erschienen war“ (v7).
Samstag, 1. Januar 2022
Mehr Ruhe. Gedanke zu Neujahr.
Gefroren am Meer. Ostsee, 2021. |
Etty Hillesum hat diese Sätze geschrieben im Angesicht der europaweiten Vernichtung von Jüdinnen und Juden durch die Nationalsozialisten. Sie schöpfte aus der eigenen inneren Ruhe, in der sie sich auch mit Gott verbunden fühlte. Ihr Wunsch nach einer friedvolleren und weniger „aufgeregten Welt“ hat sich allerdings nicht unmittelbar bewahrheitet. Aber manchmal taucht sie schon auf, diese große Ruhe.
Das wünsche ich euch im beginnenden Jahr 2022: Dass ihr im Angesicht von viel Leid und Angst und Verschlossenheit und Aggression trotzdem eine hoffnungsvolle und friedliche Ruhe in euch bewahren könnt. Und dass diese Ruhe auf eure Umgebung ausstrahlt.
Ergo: Ein gutes, ein in tiefer Ruhe starkes Jahr wünsche ich!
(J.G. Gaarlandt (Hg.), Das denkende Herz. Die Tagebücher der Etty Hillesum 1941-1943. Reinbek bei Hamburg 1985, 192; Eintrag vom 29.09.1943.)
Donnerstag, 30. Dezember 2021
Persönliche Zusammenfassung des Jahres 2021
1.
Aus Berlin wird Frankfurt. Aus Gefängnis wird Hochschule.
2.
Bücher von Frauen (Elena Ferrante, Simone Weil, Etty Hillesum, Nastassja Martin, Bernardine Evaristo, Isabelle Bogdan…) haben mich in diesem Jahr tendenziell mehr überzeugt als die von Männern (Larry Trambley, Raymond Queneau, vor allem aber Pascal Mercier, was war das denn für ein komischer Nachtzug?).
3.
Positive Ausnahmen gibt es natürlich auch (Henning Mankell, James Martin, Navid Kermani…).
Negative ebenso (Dorota Maslowska und Ulrike Almuth Sandig konnten mich nicht so recht erreichen).
Samstag, 25. Dezember 2021
Brücken-Gott?! – Eine Weihnachtsbetrachtung
Die Geburt des heiligen Kindes im Stall von Betlehem ist ein Brückenschlag. Denn seit der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus existiert eine Brücke zwischen den beiden Seiten, zwischen Menschen und Gott.
Dieses Sprachbild jedenfalls passt gut in eine landläufige Vorstellung des Gott-Welt-Verhältnisses. Gott auf der einen, die Welt mit den Menschen auf der anderen Seite eines großen Grabens, metaphysisch getrennt durch den Spalt von Schöpfer und Schöpfung, Geist und Materie, Grenzenlosigkeit und Begrenztheit.
Donnerstag, 23. Dezember 2021
Erlöst er uns? Maria kurz vor der Niederkunft
„Jetzt wird’s langsam wirklich eng. Ich habe das Gefühl, mein Bauch könnte jeden Moment platzen.
Immerhin haben wir es schon nach Jerusalem geschafft.
Aber diese Stadt ist echt anstrengend – zum Glück müssen wir nicht hier zur Zählung aufs Amt.
Allein die hohen Häuser sind ja eine Zumutung! Und dann die Leute! Ohne Rücksicht rennen die hier durch und rempeln sich durch den Tag!
Sonntag, 19. Dezember 2021
Begegnung mit dem Heiligen. Etty Hillesum zum 4. Adventssonntag
Der Besuch Marias bei Elisabeth wird für Elisabeth zur Begegnung mit dem Heiligen (Lk 1,39-45). Sie „wurde vom Heiligen Geist erfüllt“ (v41), jubelte und spürte die Bewegung des künftigen Propheten in ihrem Bauch.
Ähnliches geschieht 1942 Etty Hillesum – inmitten eines übermächtig bedrohlichen Alltags, mitten im Krieg als Jüdin in den Niederlanden, abends in ihrem Schlafzimmer.
„Ja, wie war das gestern abend in meinem kleinen Schlafzimmer?
Ich war früh zu Bett gegangen und schaute durch das große, offene Fenster hinaus. Und mir war wieder, als wäre das Leben mit all seinen Geheimnissen mir sehr nahe, als könne ich es berühren. Mir war, als ruhte ich an der nackten Brust des Lebens und hörte seinen leisen, regelmäßigen Herzschlag. Ich lag in den nackten Armen des Lebens und fühlte mich sicher und beschützt. Und ich dachte: Wie sonderbar doch das ist. Es ist Krieg. Es gibt Konzentrationslager.
Mittwoch, 15. Dezember 2021
Über die Grenzen. Maria und Josef auf dem Weg
„Ja, jetzt versuche ich es doch noch mal.
Die letzten Tage waren wirklich furchtbar anstrengend, weißt du, da ging irgendwann gar nichts mehr. Wir mussten ein paar Tage Pause einlegen und machen jetzt ganz langsam.
Es war so: Der Übergang von Galiläa nach Samarien ist ja meistens kein Problem, aber jetzt sind plötzlich so viele Leute unterwegs, dass wir immerzu warten mussten und gar nicht vorankamen – und dann noch in irgendwelche Kontrollen der Römer geraten sind.
Samstag, 11. Dezember 2021
Von Steinen und Strahlen. Bildmeditation zu Maria und Josef am 3. Adventssonntag
(Ansprache nach dem Evangelium in der Kirche Heilig Kreuz in Frankfurt)
Es ist eine Herausforderung für mich, heute von der Freude im Advent zu sprechen – und diese Freude auch zu fühlen.
Denn wohin ich auch schaue, ist wenig Grund zur Freude zu erkennen: die niemals endende Corona-Krise mit dem sich anschließenden Elend in den Krankenhäusern, der Angst vor Schulschließungen, mit Online-Lehre an der Uni, ausgefallenem Weihnachtsmarkt und vielen weiteren Zwängen, aber auch Tornados in den USA, leidende Flüchtlinge vor den Grenzen der EU und so weiter und so fort.
Freude liegt gerade nicht oben auf.
Donnerstag, 9. Dezember 2021
Alle sind schuldig?! Erfahrungen aus der Gefängnisseelsorge. Eine Ansprache
Der folgende Text bildet die Grundlage einer Ansprache beim Potsdamer Hochschulgottesdienst zm Thema "Gefangene besuchen" als Werk der Barmherzigkeit am 05.12.2021. Dafür nehme ich einige Gedanken und Textpassagen aus früheren Beiträgen (z.B. von hier und hier und hier und hier und hier) noch einmal auf und stelle sie in einen größeren Kontext.
Die ersten Menschen mit Hafterfahrungen, denen ich begegnet bin, waren ehemalige KZ- und Gulag-Häftlinge in der Westukraine. Vor zwanzig Jahren machte ich dort einen Freiwilligendienst und besuchte Alte, die ihre Hafterfahrungen niemals thematisierten und andere Alte, die über nichts anderes sprachen.
Die Gründe für ihre Inhaftierung waren ganz einfach ihr Patriotismus, ihr Jüdischsein, ihre politische Meinung oder die Tatsache, dass sie Teil der Roten Armee waren. Jedenfalls waren die Gründe für ihre Haft keine Gründe, die es rechtfertigen würden, Menschen zu inhaftieren oder gar in ein Todeslager zu stecken.
Die ersten Menschen mit Hafterfahrungen, die ich kennenlernte, waren also unschuldig.