Mittwoch, 29. Mai 2019

Die fehlende Sehnsucht nach dem Himmel. Predigtgedanken an Christi Himmelfahrt

Ich denke gerade oft an einen Zeitungsartikel, den ich vor einigen Wochen las und in dem es darum ging, wie Menschen in Deutschland sich selbst und die Gesellschaft sehen. Es handelte sich um einen Bericht zur so genannten "Vermächtnisstudie".1

Demnach zeichnet die Deutschen aus, dass sie gern stabile Verhältnisse haben, aber keine großen Visionen. Es geht ihnen eher um ein "überschaubares Glück, eine Idylle im Kleinformat."2
Eine der Verantwortlichen für die Studie, die Soziologin Jutta Allmendinger, sagt dazu, die Deutsche seien "Menschen, die das Behagliche und Maßvolle schätzen."3 Alle haben "ihre kleinen Kokons" und richten sich darin irgendwie ein. Insgesamt geht aus der Studie eine erstaunliche Gelassenheit der Deutschen in Bezug auf die aktuellen sozialen und politischen Verhältnisse hervor.

Eng begrenztes Licht.
An der Dahme bei Zeuthen, 2019.
Angesichts der vielen Krisen, in der sich die Weltpolitik und auch die deutsche politische Landschaft gerade befinden, ist das erstaunlich. Denn Grund für Sorge und Unruhe gibt es ja mehr als genug und nicht selten wird medial auch genau diese Haltung befeuert.

Aus theologischer Sicht halte ich aber für besonders bemerkenswert, dass dieses Tendenz, sich im Nahbereich des Alltäglichen einzurichten, einhergeht mit einer zunehmenden Relevanzlosigkeit des Religiösen.
Die Frage nach Gott oder einem überfassenden Sinn, die großen Fragen nach Leben und Tod verschwinden hinter dem hohen Wert einer ruhigen gesicherten Existenz mit Jahresurlaub und Bonusmeilen.

Ist also, so frage ich mich am Fest Christi Himmelfahrt, die Sehnsucht nach dem Himmel hierzulande verschwunden? Gibt es keinen Wunsch mehr nach einem Aufbruch aus der Welt, wenn wir hier nur genug zum Leben finden?

Es scheint fast so.

Ein Sinn des heutigen Festes dagegen ist das Vertrauen darauf, dass Jesus Christus uns nur vorangegangen ist, dass wir nachkommen und dass also auch unsere Zukunft der Himmel ist.
Wer sich diesen weiten Horizont aber nicht zu eigen macht, wird sich in der eigenen Enge festhalten.

Mir selbst fehlt in dieser ganzen Behaglichkeit das Abenteuerliche.
Grenzen austesten, sich mit dem Status quo nicht zufrieden geben und ausbrechen aus dem Trott, das sind Dinge, die mir sehr wichtig sind.

Auch dafür steht Himmelfahrt für mich – das Leben besteht nicht aus Rumhängen im eigenen Bett und nicht aus dem Kleben am Sessel, sondern im Aufbruch.

Vielleicht ist das ein Gedanke, der Ihnen hier im Knast auch nicht ganz fremd ist.
Die meisten können diese vier Wände, die Fenster mit den Gittern, die zuknallenden Türen, den immer gleichen Hofgang kaum mehr ertragen.

Die Hoffnung darauf, dass es irgendwann noch mehr gibt, ist hier essenziell. Im Gefängnis lebt der Wunsch nach Freiheit, nach einem weiten Horizont, nach dem Jenseits – auch wenn es vorerst nur das Jenseits der Mauern ist.

Vielleicht ist der Aufstieg Jesu aus der Enge der irdischen Möglichkeiten, vielleicht ist Himmelfahrt also auch ein sehr passendes Fest im Gefängnis.

Ich wünsche Ihnen diese Sehnsucht, die Paulus in seinem Brief an die Gemeinde in Philippi so ausdrückte:

"Ich vergesse, was hinter mir liegt, und strecke mich nach dem aus, was vor mir ist. Das Ziel vor Augen, jage ich nach dem Siegespreis: der himmlischen Berufung Gottes in Christus Jesus. ... Denn unsere Heimat ist im Himmel." (Phil 3,13f.20)

Richten Sie sich weder im Gefängnis noch in der Welt zu sehr ein!
Gott ruft Sie hinaus ins Weite – jetzt in diesem Leben und danach ebenso.
Amen

Sehnsucht nach Licht.
Universitätsbibliothek Warschau, 2015.

1   "Die Vermächtnis-Studie versteht sich als Seismograf gesellschaftlicher Entwicklungen in allen Lebensbereichen – wie Arbeit, Wohnen, Liebe, Gesundheit, Kommunikation, Besitz. Sie wurde 2015 zum ersten Mal durchgeführt. Nun haben DIE ZEIT, das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und das infas institut für angewandte Sozialwissenschaft eine Neuauflage der Studie entwickelt und finanziert. Für die neue Runde befragten Interviewer 2.070 Bürgerinnen und Bürger in Einzelgesprächen. Die Ergebnisse wurden im Mai 2019 vorgestellt". In: https://www.zeit.de/serie/das-vermaechtnis
3   Alle Zitate von J. Allmendinger ebenda, 70.

Mittwoch, 22. Mai 2019

Großartiges Ich. Unverlierbare Würde. Über Maria und das Grundgesetz

Das Grundgesetz feiert Geburtstag.

Ich mag das Grundgesetz, also gratuliere ich gern.

Besonders denke ich, wie so Viele, an den ersten Satz.

"Die Würde des Menschen ist unantastbar." (Art 1, Abs. 1, Satz 1, GG)

Ein hoher Anspruch, der trotz der scheinbar einfachen Botschaft missverständlich bleibt.

So richtig klar ist schließlich nicht, was genau diese Würde überhaupt sein soll.

Mir fällt dazu ein Satz ein, den der Evangelist Lukas Maria in den Mund legt.

Der Mächtige hat Großes an mir getan.“ (Lk 1,49)

Freitag, 17. Mai 2019

Leichte Liebe, schwere Liebe. Über religiöse Erkennungszeichen

Manchmal erlebe ich unter muslimischen Inhaftierten Diskussionen dieser Art: Wann ist jemand ein echter Muslim? Wenn er kein Schweinefleisch isst? Wenn er fünfmal am Tag betet? Wenn er im Ramadan fastet? Wenn er den Koran wörtlich versteht?

Dienstag, 14. Mai 2019

Lektionen voll undifferenzierter Hybris. Unzufriedenheit nach einem Buch von Y. N. Harari

Alle lesen ihn, alle reden von ihm – also dachte ich vor einigen Monaten, dass ich doch auch mal so ein Buch von Yuval Noah Harari lesen müsste. Da fiel mir in der Öffentlichen Bibliothek "21 Lektionen für das 21. Jahrhundert"1 in die Hände. Und ich nahm an, nun könnte ich eine Bildungslücke stopfen.
Denn wenn es um die großen Fragen unserer Zeit, also um Krieg und Frieden, Gerechtigkeit, Technologie, Digitalisierung, Migration, Terrorismus etc. geht, kann ich mir hier, so meine Hoffnung, sicher einen guten Einblick verschaffen.

Aber ich wurde schwer enttäuscht. Und ich schreibe hier im Normalfall positiv-kritisch, über Dinge, die mir gefallen und die ich empfehlen will. Nur ist hier eine Ausnahme angebracht.

Samstag, 11. Mai 2019

Christus ist mitten unter uns – Zur Theologie des Gottesdienstes

Gott will bei den Menschen sein – das ist der Kern des Christentums.
Es ist der Kern von Weihnachten, wenn wir feiern, dass Gottes Wort ein Mensch wird.
Es ist der Kern des Osterfestes, wenn wir feiern, dass Jesus über den Tod hinaus bei den Seinen ist.
Es ist der Kern von Pfingsten, wenn wir feiern, dass Gott im Heiligen Geist bei uns bleibt.
Immerzu feiert die Christenheit Gottes Gegenwart unter den Menschen.
Es ist auch der Kern unseres Gottesdienstes.

Heute sollen darum ein paar Gedanken zur Feier unserer Gottesdienste als Predigt dienen.


1. Versammlung
Das, womit der Gottesdienst beginnt, ist kein Wort, ist kein Lied, ist kein Zeichen.
Das Erste ist, dass wir zusammenkommen.
Denn wir können zwar auch jeder allein für sich beten, doch am Sonntag kommen wir zusammen. Wir stehen dann nicht allein vor Gott, sondern als Gemeinde.
Versammelt und vorbereitet.
Erkner, 2018.
Sie sind hier, im Gottesdienstraum der JVA Plötzensee, die versammelte Gemeinde Gottes an diesem Sonntag. Ob Sie nun getauft sind oder nicht, ob Sie glauben oder nicht, ob Sie katholisch sind oder evangelisch oder orthodox – Sie haben sich zum Gottesdienst versammelt.
Weshalb Sie genau gekommen sind, ist deshalb auch gar nicht so wichtig – wichtig ist, dass wir uns heute hier versammelt haben.

Denn Gott meint und ruft zwar jeden einzeln und persönlich, und wir können auch einzeln und persönlich mit ihm in Kontakt kommen, aber darüber hinaus ruft er uns zur Gemeinschaft. Wir sollen nicht allein bleiben.
Vielmehr will Gott die Menschen zusammenrufen, er will in ihrer Mitte wohnen, er will, wie es die Osterberichte zeigen, in ihre Gemeinschaft kommen und Gemeinschaft unter uns Menschen stiften.

Und wenn wir uns versammelt haben, dann können wir uns auch unter ein gemeinsames Zeichen stellen. Für uns Christen ist es das Kreuzzeichen – das Zeichen, das uns verbindet und zeigt, dass wir zu Jesus Christus stehen, der sich aus Liebe für die Menschen hat kreuzigen lassen.
Unter diesem Zeichen haben wir uns versammelt.

Wir bleiben nicht allein, weil wir mit den Anderen zusammen hier stehen. Und wir bleiben nicht allein, weil Gott dann selbst zu uns kommen will.

2. Sich selbst vor Gott bringen
Wenn wir uns versammeln, dann kommt jeder anders in diesen Raum. Der eine hat gut geschlafen, der andere nur mit schweren Medikamenten, einer schaut auf die Lockerung, die hoffentlich bald kommt, ein anderer macht sich Sorgen um die Familie draußen, einer musste gerade noch einen Konflikt auf der Piste austragen, ein anderer konnte in Ruhe den Tag beginnen...
Wir kommen mit unterschiedlichen Gefühlen und Erfahrungen, mit unterschiedlichen Hoffnungen und Ängsten. Und all das können wir mitbringen in diesen Gottesdienst.

Wer sich am Beginn des Gottesdienstes etwas Zeit nimmt und in Stille vor Gott tritt, der sammelt sich sozusagen selbst ein und legt all das, was er ist und hat, vor Gott hin.
All das, was in einem Leben misslungen ist, was zerbrochen ist, was steckengeblieben ist, aber auch das, was gelungen ist, was leuchtet und glänzt, was nur so schnurrt, kann dann beim Gottesdienst dabei sein.

Jeder ist gerufen, als ganzer Mensch in der Gegenwart da zu sein. Denn nur wenn wir ganz da sind, kann auch Gott ganz bei uns sein – wenn wir verstreut und mit vielen anderen Dingen beschäftigt sind, werden wir auch Gottes Gegenwart nicht bemerken. (Das gilt natürlich nicht nur für den Gottesdienst, sondern auch sonst...)

3. Lobgesang und Gebet
In dieser gesammelten Gegenwart kommen wir natürlich auch zu Gesang und Gebet zusammen.
Wir wenden uns Gott zu und nehmen Kontakt mit ihm auf. So tasten wir über uns hinaus und hoffen, dass da jemand ist, der uns hört.

Besonders intensiv kann dieses Gebet werden, wenn es gesungen wird. Nicht nur ein Stammeln und Verhaspeln, sondern der Versuch, Gott mit Klang und Stimme zu erreichen.
Zwar könnten wir auch aussprechen, was uns wichtig ist, aber wenn wir singen, dann klingt es im wahrsten Sinne des Wortes noch einmal völlig anders.
Denn der Ton macht, wie man so sagt, die Musik. Und er macht eben auch das Gebet.
Wenn wir die Stimme erheben, dann gehen wir über uns hinaus – wir strengen uns an, wir bringen unser Anliegen zum Klingen, wir bringen es festlicher und feierlicher vor.

Boden. Auch bereitet.
Sonnenallee, Berlin, 2019.
Schließlich kann uns der Gesang auch in meditative Stimmung versetzen – wie das bei den Troparien oder dem Trishagion der byzantinischen Liturgie in der Ostkirche der Fall ist, oder auch bei den vielmals wiederholten Gesängen in Taizé.
Deshalb singen wir immer wieder während des Gottesdienstes – es ist das gemeinsame Gebet, ist ein Einstimmen in das Gebet der vielen Mitfeiernden – und, wie wiederum in der Ostkirche stark betont wird, es ist ein Mitsingen mit den Chören der Engel im Himmel. Vielleicht klingt es nicht so himmlisch, aber wir dürfen uns einklinken und darauf vertrauen, dass wir in einem gewaltigen Chor mitsingen und Gott loben.

4 Hören und Bekennen
Stille und Besinnung gehören also in den Gottesdienst ebenso wie Gesang und Gebet.
Aber nun kommt ein weiterer Punkt, den viele mit Kirche besonders stark assoziieren: das Hören.
Und natürlich sind es die Lesungen aus der Heiligen Schrift, die im Zentrum stehen, wenn es um das Hören geht. Wenn wir aus den Schriften der Bibel vorgelesen bekommen, dann wird eine Verbindung hergestellt zwischen uns und den damals Lebenden mit ihren Gotteserfahrungen. Das, was damals eine Bedeutung hatte, kann es auch für uns haben.

Denn wir glauben:
Christus ist in seinem Wort mitten unter uns.
In diesem Sinne wurde die Bibel auch als eine Art Brief Gottes an den Lesenden oder Hörenden bezeichnet. Denn so wie ein Briefschreiber in dem anwesend ist, was er ganz persönlich einem anderen schreibt, so ist auch Gott anwesend, wenn wir biblische Lesungen hören.
Und noch mehr: Gott schenkt sich uns in seinem Wort.
Denn beim Hören können wir uns darauf verlassen, dass er uns meint und uns aufrichten oder aufrütteln, trösten oder ermahnen will. Dass er uns einlädt, uns ansprechen zu lassen und verwandelt zu werden.

Gott schenkt sich auch in Brot und Wein. Das ist sozusagen die handfeste Variante. Wo er einsteht für das, was er uns im Wort verspricht. Die Verwirklichung des Wortes in Fleisch und Blut.
Das können wir hier nicht in dieser Form feiern.

Aber beides – Gottes Anwesenheit im Wort und seine Anwesenheit im Mahl – soll uns verwandeln.

Dann können wir antworten auf dieses Wort, das Gott uns an diesem Tag gesagt hat.
Klassischerweise kommt nach der Auslegung der Lesungen (also der Predigt) deshalb das Glaubensbekenntnis. Das Bekenntnis ist sozusagen die bestätigende Antwort auf das, was Gott durch die Bibel zu den Feiernden sagt.

5 Versöhnung
Ein weiteres Element des Gottesdienstes ist die Versöhnung, der Friedensgruß.
Dazu lädt Gott uns ein: Dass wir uns mit einander und mit ihm versöhnen.
Es geht also wiederum nicht nur um Gott und mich allein, sondern darum, dass wir mit den Menschen um uns in ein besseres Verhältnis kommen.
In einem Gottesdienst wird dann nicht ausdiskutiert, was schief gelaufen ist, man wird nicht anklagen und verteidigen oder bitterlich um Verzeihung bitten. Aber man kann ein Zeichen setzen.
Es ist ein Zeichen des guten Willens, eine Geste. Wir reichen einander die Hand.

Man könnte sagen: NUR eine Geste, NUR ein Zeichen. Man kann aber auch sagen: Immerhin ein Zeichen, immerhin ein Anfang.
Und tatsächlich bitten wir Gott ja um den Frieden, wir hoffen auf Kraft für einen neuen Anfang mit denen, die um uns herum sind. Schließlich hoffen wir, dass wir diesen Frieden auch ausbreiten können.
Damit erbitten wir eigentlich eine Aufgabe von Gott. Er soll uns seinen Frieden geben, damit wir friedliche Menschen werden.
Ob das nun jemandem im Gottesdienst Kraft gibt – oder ob es vielmehr Kraft kostet, das ist eine interessante Frage, die ich an anderer Stelle gern noch einmal näher betrachten will.

Im weiteren Sinne ist das sogar eine politische Aufgabe. Der Frieden, den wir im Gottesdienst nur in der Geste des Friedensgrußes weitergeben, soll außerhalb des Gottesdienstes unser Leben bestimmen.
Nicht dass das oft geklappt hätte in der Geschichte der Kirche: Aber immerhin ist dieser Wunsch des Friedens eines der durchgehenden Worte, die der auferstandene Jesus in vielen Erscheinungsgeschichten sagt. Es scheint damals genauso wie heute nötig gewesen zu sein, Frieden zu empfangen und Frieden weiterzugeben.

Was sonst?
Moabit, Berlin, 2016.
6 Für Andere bitten
An den Friedensgruß schließen sich bei uns die Bitten an.
Versöhnt mit Gott und den Menschen können wir das vorbringen, was uns auf dem Herzen liegt.
Sicher sind das in vielen Fällen Anliegen, die uns betreffen oder jene, mit denen wir eng verbunden sind.
Aber die Bitten sind auch ein Moment im Gottesdienst, wo sich die Gemeinde, wo sich die einzelne Person öffnen kann für Dinge, die sonst außerhalb des eigenen Horizonts liegen.

Auch alle anderen werden nun mit in den Blick genommen, besonders die Notleidenden, die Schwachen, diejenigen, die nicht glauben können oder die bei allen anderen hinten runterfallen.
Ich persönlich finde es deshalb sehr schön, wenn in Gemeindegottesdiensten bisweilen auch an jene erinnert werden, die im Gefängnis sitzen. Wer denkt sonst schon in dieser Weise an Sie – außer Ihren Angehörigen?
Und auch Sie können hier an jene denken, die sonst vergessen werden. Oder an die, die unsere Bitten besonders nötig haben.

Hinter der Bitte steht die Einsicht, dass wir nicht alles selber schaffen.
So wenden wir uns an jemandem, dem wir zutrauen, dass unser Anliegen bei ihm gut aufgehoben ist.
Wenn wir unsere Bitte vor Gott formulieren, vertrauen wir ihm diese Sache oder diese Person an. Weil wir ihn gegenwärtig glauben, legen wir ihm das vor, was uns bewegt.
Damit geben wir Sorge und Angst aus der Hand, damit sie uns nicht mehr so stark bedrängen wie vielleicht zuvor.

Am Rande sei erwähnt: Eine Hochform des Bittgebets stellt das Vaterunser dar. Und hier fällt auf, dass die Hälfte der Bitten sich auf etwas beziehen, das eigentlich Gott betrifft – „geheiligt werde Dein Name, Dein Reich komme, Dein Wille geschehe." In diesen Formulierungen zeigt sich, dass das klassische Bittgebet nicht um sich selbst und die eigene kleine Welt kreist, sondern sich öffnet für Andere.

7. Sendung
Am Schluss steht schließlich die Sendung.
Nichts anderes nämlich ist der Segen: Er ist das Ausgesendetwerden in die Welt, damit das, was im Gottesdienst an uns geschehen ist, auch eine Auswirkung in unserem Alltag und unseren Beziehungen hat.
Gott wollte uns bestärken und ausrichten, trösten und halten, damit wir nun in seinem Sinne leben und handeln können.
Der Segen ist ein Auftrag. Und er steht unter demselben Zeichen wie der Beginn des Gottesdienstes: Wir werden unter dem Zeichen des Kreuzes in die Welt gesandt: Liebe bedeutet Schwachheit, aber Liebe überwindet vieles, was wir mit Gewalt und Willen nicht erreichen können. Liebe ist stärker als Leid und Tod.

Der Segen verheißt uns, dass wir Gottes Gegenwart auch dort entdecken können, dort in der Welt, wo unser Alltag ist. Dort, wo Leid und Ärger, Tod und Abschied, Trauer und Angst und Versagen sind.

So werden wir gesandt als Gesammelte, als Hörende, als Lobende, als Bekennende und nicht zuletzt als Boten des Friedens. Und hoffentlich auch als Verwandelte und Erneuerte, obwohl wir doch zu oft die Alten bleiben.

--

Mehr zu Eucharistie und Wortgottesdienst hier, mehr zum Liturgieablauf hier, mehr zur Hirtenthematik des Sonntags hier und hier, mehr zum Muttertag hier.

Erneuerung.
Kirche in Niedergrunstedt, 2017.

Mittwoch, 8. Mai 2019

"Bin ich das gewesen?" Arno Geiger und die Ambivalenzen des Kriegsendes

In Arno Geigers letztem Roman verbringt der österreichische Soldat Veit den größten Teil des Zweiten Weltkriegs auf dem Land im Salzkammergut. Dort lebt er "Unter der Drachenwand" (so der Buchtitel) und unter der ständigen Angst, doch noch für verwendungsfähig erklärt und erneut eingezogen zu werden.
Während einer Diskussion mit seinem in der Ortsverwaltung eingesetzten Onkel versucht er in einem kritischen Ausfall sich vom fernen Krieg innerlich zu distanzieren. Aber der Onkel steht dagegen – und schließlich gibt Veit zu:

Samstag, 4. Mai 2019

Jesus lieben. Überforderung oder Einladung?

Wie oft hat mich diese Frage überfordert!

"Liebst du mich mehr als diese?" (Joh 21,15)

Wann immer ich in der Vergangenheit bei Schriftbetrachtungen oder Exerzitien mit dieser Frage Jesu an Petrus aus dem heutigen Sonntagsevangelium (Joh 21,1-19) konfrontiert war, fühlte ich mich in der Pflicht. Damals, als Seminarist oder Ordensmann, hatte ich das Bedürfnis, ebenso wie Petrus antworten zu können. Und hinter dem Bedürfnis stand ein unausgesprochener Druck, genauso müsse es sein – wenn ich Jesus folgen will, dann muss ich auf die Frage nach der Liebe auch antworten können wie der Erste der Apostel: "Ja, Herr, du weißt, dass ich dich liebe." (Joh 21,15)

Donnerstag, 2. Mai 2019

Vom Kern des Auferstehungsglaubens – Kurz gefasst von Medard Kehl

Alle paar Jahre wieder wird berichtet, wie schwer sich deutsche Christen mit dem Glauben an die Auferstehung und ein Leben über das irdische Leben hinaus tun.
Gerade in der Osterzeit ist das ein besorgniserregender Befund.

Begründet ist die Skepsis vieler Getaufter zum Einen mit dem um sich greifenden naturalistischen Weltbild, das sich als metaphysikfreie Welterklärung ohne Himmel anbietet. Dazu habe ich an anderer Stelle die spannenden Überlegungen von Holm Tetens angedeutet.

Zum Anderen versteht sich ein solcher Unglaube immer noch und immer wieder als Aufstand gegen die mythische Sprache von Bibel und Tradition.

Samstag, 27. April 2019

Evangelium der Wunden. Blicke auf Jesus, uns selbst und die Welt

Das Evangelium des Sonntags (Joh 20,19-31) handelt von Wunden. Und davon, dass die Wunden zu sehen sind. 

1. Gott mutet uns die Wunden der Welt zu
Die Geschichte vom Auferstandenen, der sich den Jüngern mit seinen Wunden präsentiert, passt damit leider nur zu gut in unsere Zeit.

Denn am Ostersonntag mussten wir die Bilder von den Anschlägen in Sri Lanka mit den vielen hundert Toten und Verletzten sehen. Während die Gläubigen in ihren Kirchen die Auferstehung Jesu feierten, wollten Andere sie schlimmstmöglich verletzen.

Freitag, 26. April 2019

Ein neues Leben für Annie Ernaux. Von Ostern und sozialem Aufstieg

Passend zur Osterwoche habe ich gerade das Buch "Der Platz"1 von Annie Ernaux gelesen. Es passt deshalb zu Ostern, weil die Autorin in diesem schmalen Bändchen die wachsende Kluft zwischen sich selbst und ihrer Herkunft, vor allem die soziale Distanz zu ihrem Vater thematisiert.

Anders gesagt: Sie ist eingetaucht in ein neues Leben und hat dabei jene zurückgelassen, mit denen sie so lang unterwegs war.
Das ist für beide Seiten nicht leicht und vielleicht wirft manche der geschilderten Erfahrungen ein Streiflicht auf die Beziehung des auferstandenen Jesus zu seinen Jüngern.

Dienstag, 23. April 2019

„Geburt des Morgens“ - Österliche Natur bei Andreas Knapp

In der Natur zeigen sich gerade im Frühjahr Andeutungen und Zeichen dessen, was wir als Christen unter Auferstehung und neuem Leben verstehen1 – kein Wunder, dass Ostern in der Blüte des Jahres gefeiert wird.

In seinem Gedichtband „Beim Anblick eines Grashalms“ hat Andreas Knapp „Naturgedichte“ versammelt, die oftmals mehr oder weniger deutlich eine spirituelle Lesart enthalten.
So auch hier2:

Geburt des Morgens
Neue Farben in der Stadt.
Neukölln, Berlin, 2019.

der letzte Stern
gibt der Amsel den Einsatz

im Crescendo des Lichts
wächst die Erwartung des neuen Tages
der erste Sonnenstrahl
bricht sich in den Nachttränen

tausendfaches Aufblitzen im Tau
als habe sich der Sternenhimmel

in den Grashalmen verfangen
alle Farben werden neu erfunden

ein Atemzug Ahnung
vom ersten Schöpfungstag


Was mich sofort anspricht: das Bild der neu erfundenen Farben.

So verstehe ich Auferstehung sofort:
Neues Leben bedeutet neue Farben.
Das sind zunächst einmal Negierungen: Nicht matt, nicht altbekannt, nicht verblasst, nicht schwarz-weiß, nicht althergebracht, nicht rosig, nicht von früher übernommen, nicht grau, nicht wiederholt.
Sondern: neu.

Alles wird neu, denn Auferstehung ist eine Neuschöpfung. Daran erinnern die letzten Zeilen: Ahnung der Frische des Urzustands.
Was wir bisher gesehen haben, ist nicht vergleichbar mit dem Neuen. Unsere Kategorien greifen nicht mehr, die Augen können nicht fassen, was Auferstehung von Gott her meint, nämlich das gänzlich Neue für uns: neue Farben, ein neuer Morgen, neue Schöpfung, neue Lebendigkeit.



1   Siehe dagegen aber auch: Die Auferstehung ist kein Schmetterling.
2   A. Knapp, Beim Anblick eines Grashalms. Naturgedichte. Würzburg 2017, 78.

Sonntag, 21. April 2019

Ostern – Rückkehr mit Umkehr. Predigtgedanken zu Maria Magdalena

1. Zurückkehren ohne Tröstung
Am Ostermorgen ist Maria von Magdala zum Grab zurückgekehrt (Joh 20,1.11-18). Im Schutz der Dunkelheit kam sie und wollte beim Grab allein um ihren Meister trauern. Da sah sie, dass der Stein fortgerollt war. Sie weint, weil sie nun auch den Leichnam verloren meint und mit ihm die letzte fassbare Spur Jesu.

Ich glaube, das ist vergleichbar mit der Erfahrung, die viele Menschen kennen, wenn sie sich neu auf die Suche nach Sinn, nach irgendeiner Bedeutung im Leben, vielleicht sogar nach Gott oder nach Religion machen:
Nachdem eine Zeitlang Funkstille herrschte und kein Kontakt mit religiösen Fragen vorhanden war, kommt diese Frage irgendwann wieder.

Samstag, 20. April 2019

Karsamstag: Blick in den Abgrund mit Andrea Mantegna

Die aktuelle Ausstellung "Mantegna und Bellini – Meister der Renaissance" in der Berliner Gemäldegalerie zeigt einige eindrucksvolle Karsamstagsbilder. Unter dem Titel "Der Abstieg Christi in die Vorhölle" hat Andrea Mantegna ein bemerkenswertes Motiv kreiert und in vielen Variationen ausgeführt, das der heute gängigen Betonung der karsamstäglichen Grabesruhe entgegensteht.

Vielmehr zeigt der oberitalienische Künstler, was die theologische Spekulation hinter den Kulissen des Todes vermutet: Christus steigt zu den Toten hinunter. Er, der am Karfreitag als Mensch gestorben war, hat nun die erlösende Aufgabe, zu all den anderen Toten hinunterzusteigen und sie teilhaben zu lassen an der kommenden Auferstehung.

Freitag, 19. April 2019

Karfreitag – Zweimal berührt. Bildbetrachtungen

Liebe will den Anderen berühren. Hass leider auch.

Am Karfreitag treffen sich beide Formen körperlicher Berührung auf intensivste Weise. Sie machen besonders deutlich, was Passion alles heißen kann: passiv, erleidend, zulassend...

Zuerst bei der Kreuzigung.

Donnerstag, 18. April 2019

Gründonnerstag – Selbsteinsatz mit Berührung

Um das Geschehen von Ostern und besonders das Mahl zu verstehen, das Jesus am Abend vor seinem Tod mit seinen Jüngern feiert, ist es gut, auf die zusätzliche Handlung Jesu zu schauen, die nur bei Johannes überliefert wird.
Dort steht im Zentrum des Zusammenseins, dass Jesus seinen Jüngern die Füße wäscht.

1
Das ist jene Tätigkeit, die sonst dem Hauspersonal, in reichen römischen Häusern der damaligen Zeit also den Sklaven zukam. Und diesen Platz des Sklaven nimmt nun Jesus ein.
Er dient seinen Jüngern – jenen, die ihm hinterhergingen, weil sie in ihm etwas Besonderes, einen Propheten oder Wundertäter oder sogar den Sohn Gottes sahen.
Durch Jesu Rollenwechsel werden sie selbst nun zu etwas Besonderem, zu Auserwählten, denen sich dieser besondere Mann zuwendet.

Zergehender Weihrauch.
Grünheide, 2019
Er macht sich selbst klein, um zu zeigen, wie Gott sich den Menschen nähert: er kommt ihnen nahe als einer, der sie bedient und sie dadurch groß macht. Indem er sich selbst zu einem Sklaven macht.
Und genau das ist auch der Kern des Mahles.

Es mag beim Letzten Abendmahl in gewisser Weise auch darum gehen, dass Jesus sich mit allen an einen Tisch gesetzt hat, auch mit den Sündern, dass sie miteinander gegessen und getrunken haben und dass sie teilen.

Das Wichtigste aber ist, dass Jesus sich auch hier selbst einsetzt. Durch Mahl und Fußwaschung deutet er seinen bevorstehenden Tod. Denn im Mahl reicht er ihnen nicht irgendetwas, sondern er verspricht, dass er sich ihnen künftig in Brot und Wein selbst reicht: "Das ist mein Leib für euch." (1Kor 11,24)

Darin liegt auch der Kern von Ostern: Gott schenkt uns in seinem Sohn sein Leben.

2
Das hat Konsequenzen für das Leben der Christen, besonders für das Leben derer, die Jesu Botschaft weitertragen wollen, also für die Seelsorger, die Priester, Diakone, Ordensschwestern, Bischöfe, Päpste...
"Wenn nun ich, der Herr und Meister, euch die Füße gewaschen habe, dann müsst auch ihr einander die Füße waschen", betont Jesus im Anschluss an sein ungewöhnliches Tun (Joh 13,14).
Das kann man nun wortwörtlich nehmen, wie heute am Gründonnerstag.
Man kann und sollte es aber vor allem in einem weiteren Sinne verstehen – und zwar jeden Tag.
Einander die Füße zu waschen heißt dann, sich vor dem Anderen nicht aufzuplustern, sondern ihm gut zu tun; sich nicht bedienen zu lassen, sondern selbst zu helfen und zu dienen; nicht fromm zu reden, sondern hilfreich zur Seite zu stehen.

Dazu gehören Realismus und Selbstüberwindung: Jesus wusste, dass seine Jünger ganz normale Menschen mit Schwächen und Ängsten, Fehlern und Macken waren. Und er hat sich trotzdem vor sie hingekniet und ihre staubigen Füße gewaschen. Es war ihm in diesem Moment nicht wichtig, dass sie ihn nur halbwegs verstanden, wenn er vom Reich Gottes sprach oder von sich selbst, dass sie ihn enttäuschten, wenn er sie brauchte, dass sie am Ende sogar verängstigt weglaufen würden.
Er will ihnen trotzdem Gutes, setzt sich für sie ein, zeigt ihnen seine Bereitschaft, für sie da zu sein, kurz: wäscht ihnen trotzdem die Füße.

Für uns ist klar: Das ist im Alltag schwer zu verwirklichen. Einmal im Jahr jemandem die Füße zu waschen, ist dagegen leicht. Einmal im Jahr eine Karte schreiben, ein Geschenk besorgen oder anrufen, das ist kein Problem. Aber alltäglich für jemanden da zu sein mit seinem ganzen Leben, ist eine echte Herausforderung. Um diese Herausforderung geht es.

Berührend.
Pflanze an Kosmetikregal, Linum, 2019.
3
Und im Alltag geht es um Berührung.
Wenn Menschen, die wenig mit Religion zu tun haben, sich Gedanken machen, was es heißt, religiös zu sein, dann geht es oft darum, ob man dies oder jenes wirklich glauben kann, ob man dies oder jenes nicht zu anstrengend finden würde und so weiter.
Entscheidend ist jedoch nicht die Theorie, entscheidend ist, die Praxis, also ob wir uns berühren lassen.
Anders gesagt: Jesus quatscht nicht nur, sondern er berührt seine Jünger.
Auch dies ist wieder doppelt zu verstehen, im wörtlichen und im übertragenen Sinn.
Körperliche Berührung ist eine menschliche Grunderfahrung, die wir als Erwachsene jedoch manchmal, besonders in Situationen wie einer Haft, beiseite schieben (müssen). Nicht jeder darf mich anfassen, nicht von jedem möchte ich berührt werden.
Jesus berührt seine Jünger dort, wo sie einerseits festen Stand in ihrem Leben fassen, wo sie andererseits vorwärtskommen in der Welt. Eben an den Füßen.

Im übertragenen Sinn: Lasse ich mich von Gott berühren, lasse ich ihn an mein Herz? Lasse ich ihn an meine Fundamente? Lasse ich ihn dort ran und mir helfen, wo ich festen Stand brauche? Lasse ich ihn an die Pläne, wie ich in meinem Leben fortkommen möchte?

Wenn ich zulasse, dass Gott mich berührt, dann werde ich auch bereit, mir sein Leben schenken zu lassen. Dann werde ich selbst bereiter, mich praktisch für Andere einzusetzen.