Donnerstag, 21. Dezember 2017

KinderStück 21 – Nähe suchen, Ferne suchen

Walter Benjamins berühmte Skizzen über eine bürgerliche "Kindheit in Berlin" sind prägnant eingefangene Beobachtungen und Reflexionen. Das Büchlein umfasst 37 Kurztexte, darunter auch die anderthalbseitige Miniatur "Das Karussel".
Erlebnisbeobachtung, Gefühlsbeschreibung und Bildhaftigkeit verschränken sich hier:

Rummel.
Rudow, Berlin, 2017.
"Musik setzt ein, und ruckweis rollt das Kind von seiner Mutter fort. Erst hat es Angst, die Mutter zu verlassen. Dann aber merkt es, wie es selber treu ist. Es thront als treuer Herrscher über einer Welt, die ihm gehört."
Und es fährt, Runde um Runde, immer im Kreis.
"Längst ist die ewige Wiederkehr aller Dinge Kinderweisheit geworden und das Leben ein uralter Rausch der Herrschaft mit dem dröhnenden Orchestrion in der Mitte. Spielt es langsamer, fängt der Raum an zu stottern ... Das Karussel wird unsicherer Grund. Und die Mutter taucht auf, der vielfach gerammte Pfahl, um den das landende Kind das Tau seiner Blicke wickelt."1

Tiefschürfender kann ein Gedanke zum Thema Eigenstand und Abhängigkeit, Entfernung und Annäherung kaum sein. Die kindliche Erfahrung der Welteroberung mit ihrem Bedürfnis nach Unabhängigkeit und der gleichzeitigen Angst vor ebendieser Unabhängigkeit sind elementare Gemütsbewegungen.
Der Advent erinnert daran, dass unser Bedürfnis nach Autonomie seinen Gegenpol braucht in der Erfahrung des Geborgenseins. Der biblische Muttervater-Gott will ein solch liebender "Pfahl" des Angenommenseins in unserer Lebensbrandung sein.


1   W. Benjamin, Das Karussel. In: Ders., Berliner Kindheit um Neunzehnhundert. Frankfurt a.M. 1950, 87f.