Walter Benjamins berühmte Skizzen über
eine bürgerliche "Kindheit in Berlin" sind prägnant
eingefangene Beobachtungen und Reflexionen. Das Büchlein umfasst 37
Kurztexte, darunter auch die anderthalbseitige Miniatur "Das
Karussel".
Erlebnisbeobachtung,
Gefühlsbeschreibung und Bildhaftigkeit verschränken sich hier:
Rummel. Rudow, Berlin, 2017. |
"Musik setzt ein, und ruckweis
rollt das Kind von seiner Mutter fort. Erst hat es Angst, die Mutter
zu verlassen. Dann aber merkt es, wie es selber treu ist. Es thront
als treuer Herrscher über einer Welt, die ihm gehört."
Und es fährt, Runde um Runde, immer im
Kreis.
"Längst ist die ewige
Wiederkehr aller Dinge Kinderweisheit geworden und das Leben ein
uralter Rausch der Herrschaft mit dem dröhnenden Orchestrion in der
Mitte. Spielt es langsamer, fängt der Raum an zu stottern ... Das
Karussel wird unsicherer Grund. Und die Mutter taucht auf, der
vielfach gerammte Pfahl, um den das landende Kind das Tau seiner
Blicke wickelt."1
Tiefschürfender kann ein Gedanke zum
Thema Eigenstand und Abhängigkeit, Entfernung und Annäherung kaum
sein. Die kindliche Erfahrung der Welteroberung mit ihrem Bedürfnis
nach Unabhängigkeit und der gleichzeitigen Angst vor ebendieser
Unabhängigkeit sind elementare Gemütsbewegungen.
Der Advent erinnert daran, dass unser
Bedürfnis nach Autonomie seinen Gegenpol braucht in der Erfahrung
des Geborgenseins. Der biblische Muttervater-Gott will ein solch liebender
"Pfahl" des Angenommenseins in unserer
Lebensbrandung sein.
1 W.
Benjamin, Das Karussel. In: Ders., Berliner Kindheit um
Neunzehnhundert. Frankfurt a.M. 1950, 87f.